Zwangsarbeit 2
Marcel Alexander Niggli
65 Das Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- und Pflichtarbeit der Allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1930 (SR 0.822.713.9) definiert in Art. 2 Ziff. 1
«Als ’Zwangs- oder Pflichtarbeit’ im Sinne dieses Übereinkommens […] jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.»
In Ziff. 2 aber zählt das Übereinkommen dann eine Reihe von Ausnahmen auf, die nicht als «Zwangs- oder Pflichtarbeit» gelten sollen. Die Aufzählung ist interessant. Ausgeschlossen werden nämlich:
alle Arbeiten im Rahmen von Militärdienstpflichten, wenn sie nur militärischen Zwecken dienen,
alle Arbeiten, die zu den üblichen Bürgerpflichten zählen, sofern das Land unter «voller Selbstregierung» steht,
alle Arbeiten, die aufgrund gerichtlicher Verurteilungen verlangt werden, sofern sie unter Überwachung und Aufsicht der öffentlichen Behörden ausgeführt werden und der Verurteilte nicht an Dritte verdingt oder sonst zur Verfügung gestellt wird,
alle Arbeiten in Fällen höherer Gewalt, wie etwa Krieg, oder Unglücksfällen wie Feuersbrunst, Überschwemmung, Hungersnot, Erdbeben, verheerende Menschen- und Viehseuchen, plötzliches Auftreten von wilden Tieren, Insekten oder Pflanzenplagen, und überhaupt in allen Fällen, in denen das Leben oder die Wohlfahrt der Gesamtheit oder eines Teiles der Bevölkerung bedroht ist;
kleinere Gemeindearbeiten, die unmittelbar dem Wohl der Gemeinschaft dienen, durch ihre Mitglieder ausgeführt werden und zu den üblichen Bürgerpflichten der Gemeinschaftsmitglieder gerechnet werden können; allerdings nur sofern die Bevölkerung oder ihre unmittelbaren Vertreter berechtigt sind, sich über die Notwendigkeit der Arbeiten zu äussern.
Ganz ähnlich, wenn auch kürzer, regelt die EMRK die Frage in ihrem Art. 4. In Abs. 1 wird das Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft statuiert, in Abs. 2 dasjenige von Zwangs- und Pflichtarbeit. In Abs. 3 schliesslich werden die Ausnahmen analog zur ILO-Konvention aufgezählt (Strafvollzug, Militär, Katastrophen und Notstände sowie «übliche» Bürgerpflichten).
Ich frage mich, ob ich der Einzige bin, dem unklar ist, was denn genau noch ausgeschlossen bleibt. Die Zwangsarbeit in den römischen Steinbrüchen offenbar nicht. Und als die Aufklärer im 18. Jahrhundert gegen die Todesstrafe primär utilitaristisch argumentierten, dass es sinnvoller sei, statt die Straftäter zu töten, sie als Ruderer auf Galeeren für die Gemeinschaft arbeiten zu lassen, waren sie mit ihrem Vorschlag so erfolgreich, dass auf Italienisch «galera» immer noch Gefängnis meint. Auch dies aber wäre weder für die ILO-Konven- 66 tion, noch für die EMRK ein Problem. Und selbst Fronarbeit wäre offenbar zulässig, wenn sie nicht von einem Monarchen, sondern von einer Gemeinschaft angeordnet wird. Alles, was die Sowjetunion mit ihren Bürgern angestellt hat, inklusive der Gulags, wäre wohl zulässig. Mehr noch, eigentlich wäre in einem kommunistischen System Zwangsarbeit überhaupt nicht möglich, weil – per definitionem – vollständiger als im Kommunismus die Selbstregierung ja nicht sein kann. Das Konzept der Zwangsarbeit erweist sich mithin als durch und durch kollektivistisch: Nur Arbeit, zu der wir durch Private gezwungen werden, soll Zwangsarbeit heissen und unzulässig sein, nicht aber, wozu uns das Kollektiv nötigt, ganz so, als könnte ein Kollektiv keinen unrechtmässigen Zwang ausüben. Man muss schon ein gläubiger Sozialist (oder Kollektivist anderer, etwa nationalistischer Färbung) sein, um das gutzuheissen.
Was als Folge einer gerichtlichen Verurteilung verlangt wird, ist keine Zwangsarbeit.
Wer Zwangsarbeit verhängen will, muss das also via Gerichtsurteil tun.