Was ist Mediengesellschaft?

Marcel Alexander NiggliWas ist Mediengesellschaft?LContraLegem201821325

Was ist Medien­gesellschaft?

Marcel Alexander Niggli

Gesellschaft und Recht in Zeiten globaler Kommunikation

Einleitung1

13Die Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie der letzten 25 Jahre haben nicht nur dazu geführt, dass Kommunikationstechnologie allgegenwärtig und für praktisch alle erschwinglich wurde, sondern haben auch die Geschwindigkeit fast aller sozialen Prozesse unglaublich erhöht, sodass heute beinahe in Echtzeit über jedes beliebige Ereignis an jedem beliebigen Ort der Welt kommuniziert wird. Neben der Beschleunigung und einer scheinbaren Demokratisierung der Kommunikationsprozesse, wonach meist angenommen wird, alle hätten gleiche Chancen und Bedeutung in einem globalen Spiel, hat die Verbreitung von Kommunikationstechnologien aber primär bewirkt, dass unsere Welt zunehmend zu einer Mediengesellschaft mutiert ist. Was aber ist eine Mediengesellschaft?

Mediengesellschaft

Mediengesellschaft soll vorliegend eine Gesellschaft heissen, deren Realität sich primär über die mediale Vermittlung von Information konstituiert, ja definiert. Mediale Vermittlung von Information meint dabei zwar auch die bipolare Kommunikation zwischen zwei Personen über technische Geräte, doch stellt dies nur den kleinsten, wenn nicht einen verschwindend kleinen Teil des erfassten Phänomens dar. Mediale Kommunikation meint mithin alles, was nicht unmittelbar von Angesicht zu Angesicht, sondern mithilfe technischer Geräte mitgeteilt wird. Das umfasst 14 sowohl die klassischen Massenmedien, Print und Non-Print, aber auch die sog. sozialen Medien.

Merkmale der Mediengesellschaft

Verschiedene Aspekte einer so verstandenen Mediengesellschaft lassen sich ohne Mühe erkennen, die ohne Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit kurz skizziert werden.

Privat & Öffentlich

Typisch ist, dass die interpersonale Kommunikation vom Höchstpersönlichen fliessend ins Persönliche, Freundschaftliche, Bekanntschaftliche und schliesslich Öffentliche übergeht. Sind traditionelle Textnachrichten wie SMS üblicherweise an eine oder mehrere Personen gerichtet, so sind Gruppenchats bei WhatsApp bereits eine halböffentliche Kommunikationsform, da nicht immer alle Teilnehmer einander überhaupt kennen. Spezifisches Kennzeichen moderner Medien ist die Einebnung der Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Kommunikation als Folge leichtester Reproduzierbarkeit beinahe jedes beliebigen Inhaltes. Selbst klassische Massenmedien wie etwa Zeitungen oder Radio und Fernsehen werden bei ihren Online-Auftritten zu Plattformen des Austausches, weil sie meist ihren Hörern bzw. Lesern die Möglichkeit eröffnen, durch Kommentare eine Rückmeldung zu geben, sodass der klassische Charakter unidirektionaler Kommunikation der Massenmedien zumindest ergänzt bzw. gebrochen wird. Aktuelle Medienkommunikation erscheint deshalb gleichzeitig höchstprivat und völlig öffentlich. Symptomatisch etwa ist, dass alles, was wir tun, erleben oder sogar bloss essen, mitgeteilt wird, und zwar üblicherweise an einen grösseren Personenkreis, der nicht zwingend nur unsere Freunde umfassen muss. Deutlich wird dies bereits in den Begriffen: alle Kontakte auf Facebook sind «Freunde», unabhängig von der Nähe oder Intensität der Beziehung, und «teilen» meint nicht etwa, dass dem Teilenden etwas abgeht, wie etwa wenn er einen Kuchen teilt oder einen Mantel, sondern dass er das Seinige vervielfältigt, er sich selbst und seine Information also reproduziert und proliferiert.

Proliferation medialer Information

Erste und ganz offensichtliche Konsequenz der vorbeschriebenen Entwicklung ist, dass das Informationsangebot explodiert. Das ergibt sich nicht nur aus der Veröffentlichung privater und privatester Informationen, sondern auch daraus, dass diese Informationen ihrerseits kopiert, gespiegelt und weitergereicht werden von anderen, die sich darauf «privat» beziehen und so die Quantität der zugänglichen Informationen multiplizieren und exponentiell vervielfältigen, nicht unähnlich einem Bild, das von einem Spiegel zurückgeworfen wiederum in einem Spiegel aufgefangen und zurückgeworfen wird, in einer unendlichen Regression. So ist es keine Seltenheit mehr, dass unter dem Zeitdruck, dem Journalisten unterworfen sind, wenn sie von den Ereignissen überrollt werden, sie keinen «Experten» finden, den sie befragen könnten, weshalb sie sich einfach gegenseitig zu «Experten» befördern und befragen. Mediale Wirklichkeit wird deshalb zunehmend selbstreferentiell.

Es gibt keine «fake news».

Die «tachogene Weltfremdheit»2, also die beschleunigte Erfahrungsveraltung und die gleichzeitige Karriere des Hörensagens infolge der Zunahme nicht nur der Geschwindigkeit, sondern der Beschleunigung selbst, hat zur Folge, dass zunehmend Nachrichtenbedürfnisse befriedigt werden müssen zu einem Zeitpunkt, an welchem noch überhaupt keine zuverlässigen Informationen zugänglich sind. 15 Als Ausweg aus dieser Aporie bleibt dem Berichterstatter eigentlich nur die Flucht in die Spekulation, in dasjenige, was sein könnte, was sich ereignen könnte, was möglicherweise folgen könnte aus der aktuellen Situation. Mediale Wirklichkeit wird deshalb immer stärker zur Potentialität, zur blossen Möglichkeit, zum Risiko und zur Chance. Möglichkeiten, Risiken und Chancen sind gerade dadurch charakterisiert, dass sie gleichzeitig bestehen und nicht bestehen, sie sind real und irreal zugleich. Über Potentialitäten lässt sich nichts Zuverlässiges sagen bzw. eben alles. Es verschwimmt die Grenze zwischen Tatsachen und Wertungen, wenn das Mögliche als Real behandelt wird, gerade so, als hätte es sich schon ereignet.

Verdinglichung und Entpersönlichung

Mit der Explosion der Information geht Verdinglichung und Entpersönlichung einher. Die blosse Tatsache, dass über persönliche und persönlichste Sachverhalte kommuniziert wird, nimmt ihnen das Höchstpersönliche, Unvergleichliche. Indem es kommuniziert wird, wird es kommunikabel und damit auch vergleichbar. Das Einzigartige verschwindet notwendig, indem darüber kommuniziert wird, weil Einzigartiges nicht sagbar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass mit den elektronischen Medien jeder beliebige Inhalt ohne Schwierigkeit und ohne grossen Aufwand kopiert werden kann, d. h. reproduziert und beliebig vervielfältigt.

Regression in die Kindheit

In der Mediengesellschaft dominiert nicht die eigene, unmittelbare, sondern die medial vermittelte Erfahrung anderer. Ein wesentlicher Aspekt der Mediengesellschaft besteht in der allgemeinen Regression in die Kindheit: Ein immer grösserer Anteil unserer Erfahrungen wird nicht mehr unmittelbar, persönlich erworben, sondern medial vermittelt, d. h. vermittelt werden Erfahrungen anderer. Nicht unähnlich Kindern sind wir zunehmend abhängig vom Vertrauen in die Geschichten, die uns erzählt werden. Wir regredieren sozusagen in den Zustand von Kindern, die den Erzählungen Erwachsener nachleben, denen sie vertrauen, da ihnen selbst die eigene Erfahrung fehlt.3 Selbst das immer kleiner werdende Quantum eigener, unmittelbarer Erfahrungen wird indes durch die medial vermittelte Wirklichkeit geprägt. Die mittelbar, über die Medien erfahrene «Wirklichkeit» anderer ist so stark, dass sie unsere eigene, unmittelbare Erfahrung nicht nur beeinflusst, sondern eventuell übertönt.4

Das geht einher mit der zunehmenden Selbstreferenz der Medien. Erwähnt wurde bereits, dass das angestrebte hohe Tempo dazu führt, dass keine Zeit bleibt, eigentliche Sachverständige zu befragen, weil diese typischerweise nicht nur Zeit brauchen, um den Sachverhalt zu verstehen, sondern auch ungern übermässig vereinfachen. Als Konsequenz werden die Befragten grundsätzlich zu Experten erklärt, was ja irgendwie auch immer zutrifft. Da aber auch dies noch nicht genügend Geschwindigkeit gewährleistet, werden entweder die Berichte anderer Medien zitiert, oder – was aktiver und unmittelbarer wirkt – Personen befragt, die über ein bestimmtes Thema in einem Medium berichten, im einfachsten Fall Mitarbeiter desselben Mediums. Das Berichten über das Berichten entfernt sich dabei zwingend von der unmittelbaren Erfahrung und entwickelt sich zu einem gut verpackten Hörensagen. Schön illustriert wird das etwa durch die allgemeine Überraschung über den Entscheid zum Brexit oder den Wahlsieg von Donald Trump, bei dem nur gerade 11 von 96 Umfragen den Ausgang korrekt vorhersagten, was bedeutet, dass es erfolgreicher gewesen wäre, eine Münze zu werfen.5

16 Mittelbarkeit & Sinnenferne

Die Dominanz medial vermittelter Erfahrung, d. h. mittelbarer Erfahrung, hat die ganz augenfällige Konsequenz, dass den verschiedenen Sinnen höchst unterschiedliches Gewicht zukommt. Eine sinnliche Erfahrung im Sinne von unmittelbar-sinnlichem Erleben nämlich findet praktisch nur noch visuell und auditiv statt. Damit sind olfaktorische und gustatorische, insbesondere aber taktile Wahrnehmung ausgeschlossen. Erfahrung als Zusammenwirken aller Sinnesfaktoren, insbesondere in ihrer Körperlichkeit, wird durch mediale Vermittlung verkrüppelt und ihres totalitären Charakters beraubt, was sie erträglich und beherrschbar werden lässt, sie aber gleichzeitig zu einer Art Popanz oder Puppenschauspiel herabmindert. Statt Erfahrung tatsächlich zu erleben, wird eine Erfahrungsdarstellung geboten nach der Art von Kino oder Theater. Dieses Erfahrungstheater oder -substitut fingiert Erfahrung und verändert damit auch die Kommunikation darüber: Jeder, der einen Sachverhalt medial vermittelt mitbekommt, ist Experte in Fragen dieses Sachverhaltes. Zugeschüttet wird dabei aber der Unterschied zwischen dem Zuschauer und dem Schauspieler, also zwischen dem Beobachter eines sich auf einer Bühne abwickelnden Schauspiels und der Mitwirkung an ebendiesem Schauspiel auf der Bühne selbst (natürlich wirken auch die Zuschauer mit, aber nicht selbst exponiert, nicht in der gleichen Weise beobachtet). Die Position eines blossen Beobachters lässt – ganz ähnlich einem Traum – das Empfinden der Erfahrung und den Einsatz, der dafür zu leisten ist, auseinanderfallen. Die Mittelbarkeit medial vermittelter Erfahrung verändert den Medienkonsumenten also selbst, der – während er den Träumen anderer zusieht und damit scheinbar an ihnen teilnimmt – immer stärker selbst zum Träumenden wird, was ihn eng verknüpft mit dem nächsten Aspekt, den wir nachstehend ansprechen wollen.

Abstrakte Emotion

Immer wieder, und immer häufiger wird vorgebracht, der mediale Einfluss bewirke und bestärke auch eine zunehmende Emotionalisierung öffentlicher Diskussionen.6 Das wird durchweg als Negativum dargestellt und die angebliche «Emotionalisierung» einer klassisch-aufgeklärten gefühlskalten «Rationalität» entgegengesetzt, ganz so, als wären Emotionen unvernünftig.7 Das war zu Kants Zeiten falsch und ist es auch heute noch. Für die behauptete schädliche «Emotionalisierung» des gesellschaftlichen Diskurses durch die Medien ist es doppelt unzutreffend. Zum einen sind Gefühle nicht schädlich, sondern für ein soziales Zusammenleben unerlässlich, zum anderen aber werden durch die Medien nicht wirklich Gefühle transportiert. Gefühle sind immer konkret, sinnlich, auf der Haut spürbar. Dies kann mediale Kommunikation gar nicht erreichen, weil sie die Haut eben nicht erreicht. Alles, was «gefühlt» wird, sind Konstruktionen und Eigenerfindungen des Medienkonsumenten. Medien erlauben keine wirklichen Emotionen, erlauben nichts wirklich Sinnlich-Konkretes, sondern einzig eine Art Emotionstheater. Ähnlich wie in einem Film oder einem Theaterstück sind wir bloss Zuschauer von Etwas, das uns zwar zu betreffen scheint, das aber mit dem Verlassen des Theaters oder Kinos eben nicht mehr notwendig unser Leben betrifft. Wirkliche, persönliche und bleibende Konsequenzen sind nicht da. Soll das, was wir da erleben, Emotionen heissen, so handelt es sich in gewissem Sinne um abstrakte Emotionen. Abstrakt in dem Sinne, dass wir letztlich die Wahl haben, sie zuzulassen oder nicht. Wenn wir uns auf den Weg machen, um am Grab einer uns persönlich nicht bekannten Person Blumen niederzulegen, dann legen wir nicht am Grab der Person, sondern an der Gedenkstätte unserer selbst Blumen nieder.8

Eine eigentliche Emotionalisierung von Medien und Politik findet also nicht statt. Vielmehr 17 lässt sich ein Theater fein orchestrierter abstrakter Emotionen beobachten, das uns ermöglicht, uns als empathisch-gefühlvolle Wesen zu konstruieren, ohne dass uns das viel kosten würde. Wenn wir unseren Avatar nach einem Attentat in den jeweiligen nationalen Farben des gerade aktuellen Opferstaates einfärben, dann gewinnen wir dadurch mehr als das Objekt unserer Solidarität. Dies ist eigentlicher Existenzgrund und Sinn der «emotionalen» Geschichten und Bilder, die in Windeseile – viral – um die Welt gehen: Sie kosten nichts. Ein billiges Vergnügen.

Kanalisierung & Wettbewerb: TMI

Die vorstehend aufgezeigten Aspekte münden in einer Konzentration und Kanalisierung der Möglichkeiten, Wirklichkeit zu konstruieren. Mediale Wirklichkeitskonstruktion schliesst Alternativen (wie etwa direkt-sinnliche Erfahrung) aus und konzentriert die sinnliche Erfahrung weitgehend auf visuell-auditives Erfahrbares. Damit werden die Kanäle möglicher Kommunikation reduziert und die Kommunikationsmöglichkeiten verknappt, was automatisch zu einem grösseren Wettbewerb unter diesen Informationen führt. Aufmerksamkeit wird rar, wird zu der raren Ressource überhaupt. Daraus ergibt sich eines der Kardinalmerkmale der Mediengesellschaft: das Übermass an Information. Nicht – wie noch vor 25 Jahren – das Auffinden von Information stellt das eigentliche Problem dar, sondern im Gegenteil das Filtern und Beschränken des Informations-Tsunamis. Die aktuelle Lage könnte treffend mit TMI beschrieben werden (too much information). Egal zu welcher Frage, immer finden wir uns in einer Situation des Informationsüberflusses, den es zu filtern, zu beschränken und zu strukturieren gilt.

Unmöglichkeit von Transparenz

Als unmittelbare und direkte Folge der Informationsflut ergibt sich, dass die von der Aufklärung herstammende Forderung nach Transparenz, die nicht nur medial immer wieder mit grossem Pathos und Engagement vorgebracht wird, sondern inzwischen wohl mehrheitlich als positiver Wert an sich empfunden wird, der überhaupt nicht mehr begründet oder legitimiert werden muss, an der Sache völlig vorbeigeht, und kontraproduktiv wirkt, weil sie das genaue Gegenteil von dem erreicht, was sie anstrebt. Transparenz kann eine sinnvolle Forderung dort sein, wo das Problem darin besteht, Informationen zu finden, also noch zu Zeiten der Aufklärung, vielleicht gar bis zu den Weltkriegen. Transparenz ermöglicht in einem solchen Umfeld Kontrolle der in Frage stehenden Entscheidungen und Verfahren. Besteht aber – wie heute – das Problem nicht darin, Informationen zu finden, sondern umgekehrt sie zu filtern und zu verknüpfen, vergrössert «Transparenz» noch das Übermass an Information (TMI) und damit den Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Transparente Entscheidungen und Verfahren sind nicht per se interessant, sondern einzig dann, wenn sie Skandalisierungspotential aufweisen, wenn sie aussergewöhnlich sind. Dies wiederum löst eine völlig vernünftige Gegenreaktion der potentiell Betroffenen aus, nämlich (1) ein umfassendes Streben danach, möglichst wenig zu dokumentieren, damit es nicht offengelegt werden muss, und wenn sich das nicht verhindern lässt, (2) Dokumentation möglichst vager und allgemeiner Argumente und Aussagen, damit im Falle einer medialen Skandalisierung keine eindeutigen Schlüsse möglich sind. Dass Medien die Funktion eines public watchdog hätten, also eines öffentlichen Wachhundes, würde nur zutreffen, wenn mit der Wache kein Geld verdient würde, ein Wachhund nämlich bewacht Wertloses ebensogut wie Wertvolles.

Mimimi: Empfindsamkeit & Empfindlichkeit

Schliesslich bleibt ein Aspekt zu erwähnen, der vielleicht weniger bedeutsam, aber sehr auffällig ist: Die völlig unverhältnismässige Bedeutung von äusserst seltenen Phänomenen und Gruppen, also etwa Bevölkerungsgruppen mit extrem seltener sexueller Identität oder aussergewöhnlichen sexuellen Präferenzen, oder Allergien etc. Es lässt sich leicht feststellen und entspricht der Logik der Mediengesell- 18 schaft, dass je seltener ein Phänomen tatsächlich ist, desto häufiger medial darüber berichtet werden wird. Die Häufigkeit eines Phänomenes in der unmittelbar erfahrbaren Welt ist umgekehrt proportional zur Häufigkeit der medialen Berichterstattung darüber. Das liegt am Fokus der Medien auf das Aussergewöhnliche (vgl. dazu gleich).

Diese Grundstruktur bewirkt, dass – medial zumindest – Empfindlichkeit und Empfindsamkeit notwendig zunehmen. Wer durch ein Ereignis oder den Bericht darüber zwar betroffen, aber nicht verletzt ist, bietet keinen Stoff für einen Medienbericht. Umgekehrt bietet jeder, der sich verletzt fühlt, Stoff für einen Medienbericht. Dabei gilt folgende Regel: Das mediale Potential einer Skandalisierung ist umso grösser, (1) je häufiger und selbstverständlicher das verletzende Phänomen, und (2) je abstruser die behauptete Verletzung. Empfindsamkeit und Empfindlichkeit sind daher essentielle Instrumente medialer Existenz. Gerade kleine und kleinste Gruppen existieren in der unmittelbar erfahrbaren Welt nicht oder kaum. Sie können aber eine mediale Existenz sehr leicht begründen, indem sie zum Objekt von Berichterstattung werden. Dies wiederum ist leicht zu erreichen, indem Verletzungen von Gefühlen, mangelnder Respekt der fraglichen Gruppe gegenüber, oder möglichst schwere Folgen eines Phänomens, für sich behauptet werden: Ist eine blosse Irritation oder Störung der eigenen Position noch ungenügend, wird sie medial höchst interessant, sobald eine traumatische Wirkung behauptet wird. Entsprechend wird jede Auswirkung eines Phänomens, wird jede Beeinträchtigung überhöht, und jede Betroffenheit begründet Opferqualität.

Der mediale Fokus

Aus den vorstehend skizzierten Elementen ergibt sich zwanglos aber notwendig, dass der mediale Fokus auf allem liegt, was Aufmerksamkeit generiert. Aufmerksamkeit hält das Medium selbst am Leben. Alles, was keine Aufmerksamkeit generiert, ist Ballast. Mediale Berichterstattung bzw. mediale Wirklichkeitskonstruktion wird sich deshalb konzentrieren auf Seltenes, Aussergewöhnliches, Schockierendes, Erstaunliches. Ebenso wie unser eigenes Aufmerksamkeitsmanagement sich primär auf Aussergewöhnliches und Herausragendes konzentriert, ebenso also wie wir selbst in unserer Wahrnehmung Komplexität primär dadurch reduzieren, dass wir das Sich-Wiederholende und Gewohnte nicht mehr bewusst wahrnehmen, ebenso orientiert sich die Existenz medialer Wirklichkeit am Aussergewöhnlichen.

Medien als treibende Kraft?

Die beschriebenen Grundstrukturen der Mediengesellschaft sind natürlich nicht Resultat einer bestimmten Politik oder Zielrichtung dieser Medien selbst. Das beliebte Medien-Bashing geht deshalb grundsätzlich fehl. Es sind nicht «die» Medien oder gar die Journalisten, die diese Entwicklungen auslösen, obgleich sie sie nolens volens vorantreiben. Den Medien selbst den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist nur ein – zwar billiger, aber immer wieder erfolgreicher – Trick, mediale Aufmerksamkeit zu erlangen und damit genau das zu stärken und zu fördern, was verdammt wird. Es gehört zur paradoxen Logik der Mediengesellschaft, dass selbst intensives und rabiates Verdammen oder gar Bekämpfen medialer Berichterstattung sofort Objekt ebendieser Berichterstattung wird und damit Teil dessen, was verdammt wird.

Wir regredieren sozusagen in den Zustand von Kindern.

Die «Medien» selbst sind zwar nicht Ursache der Entwicklung zur Mediengesellschaft oder gar deren treibende Kraft. Vielmehr sind sie selbst ebenso getriebene wie alle anderen auch. Anders allerdings als viele andere gesellschaft- 19 lichen Strukturen sind Medien gleichzeitig Getriebene und Treibende, Subjekt und Objekt zugleich. Dies deshalb, weil sie den eigentlichen Werkstoff, das Substrat der Mediengesellschaft gleichzeitig darstellen und produzieren. Massgeblich sind zwei andere Faktoren, die unabhängig voneinander erheblichen Einfluss ausüben, namentlich die Ökonomisierung und die Politik.

Zwei Verstärker

Wirtschaft & Ökonomisierung

Werden Medien primär als wirtschaftliche Phänomene verstanden, d. h. als Teil des ökonomischen Systems, so wird ihre Leistung wesentlich am ökonomischen Wert ihrer Produktion gemessen. Mediale Berichterstattung wird zum wirtschaftlichen Faktor. Information wird wirtschaftlich bewertbar und bewertet. Das verstärkt zwangsläufig die Bedeutung der Aufmerksamkeit: Je grösser der ökonomische Druck auf ein Medium, desto stärker ist es genötigt, Aufmerksamkeit zu generieren, d. h. Aussergewöhnliches und Bedrohliches zu berichten. In einem wirtschaftlichen Kontext ist Effizienz, also das Verhältnis von Kosten und Nutzen, natürlich ein relevanter Massstab. Effizienz kann aber nur der ausschlaggebende Faktor sein, wenn dem Medium keine anderen Ziele gesetzt werden als seine Rentabilität. Dann nämlich reduziert sich die Frage der Effizienz letztlich auf die Kosten. Jede Berichterstattung, die sich nicht ausschliesslich über Aufmerksamkeit finanziert, sprich über Werbung (wie z. B. in staatlichen Medien), wird sich deshalb immer und notwendig dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie «produziere» am Markt vorbei, sprich an der Nachfrage bzw. eben an der Aufmerksamkeit, was teuer, weil ineffizient sei.

Besteht aber ein Ziel, das über die Profitabilität hinausgeht, etwa Information der Medienkonsumenten, so ist nicht alleine Effizienz massgebend, sondern auch Effektivität, d. h. Tauglichkeit und Grad der Zielerreichung. Ein nicht (ausschliesslich) über die Aufmerksamkeit gesteuertes Medium erscheint als wesentlich effektiver (d. h. erreicht das vorgegebene Ziel besser), als eines, das nur der Aufmerksamkeit folgt. Gerade darin liegt etwa der Grund für zwingende Bestandteile einer Ausbildung (Pflichtkurse, Pflichtlektüre, Reihenfolge der Studienmaterien etc.). Und dies ist auch, was einen Autodidakten – selbst einen sehr umfassend gebildeten – meist erkennbar von Absolventen geordneter Ausbildungsgänge unterscheidet.

Politik

Der zweite Verstärkungsfaktor ist die Politik. Will man Politik betreiben, so muss man gewählt bzw. wiedergewählt werden. Die nobelsten und hehrsten Ziele verlieren sich im Nirgendwo, wenn diejenigen, die sie vertreten, nicht (wieder)gewählt werden. Jeder Politiker muss deshalb danach streben zu «existieren», d. h. – in einer Mediengesellschaft – medial präsent zu sein. Medienberichterstattung jeder Art zu suchen, ist oberste Politikerpflicht. Und diese Medienpräsenz wird eben erreicht durch Aussergewöhnliches, Aufmerksamkeit Erheischendes, also etwa durch Hinweise auf Missstände. Für den Bereich des Rechts bedeutet dies, dass die aktuell geltende Gesetzeslage immer ungenügend sein muss, die Gefährdung der Bevölkerung immer beträchtlich ist und die entsprechenden Risiken immer unterschätzt werden. Der Hinweis auf diese Defizite sichert mediale Aufmerksamkeit. Soll die eigene Bedeutung und der eigene Einsatz für die Gemeinschaft betont werden, so muss neben der Analyse der Gefahrenlage auch ein Vorschlag gemacht werden, der für Abhilfe sorgt. Dies erfolgt – ganz konsequent und logisch verständlich –, indem weitere Strafnormen gefordert werden. Die Forderung lässt den Politiker als Verteidiger des Guten erscheinen, kostet ihn aber nicht einen Rappen. Seine Defizitanalyse wiederum ist medial interessant, weil sie Aussergewöhnliches aufzeigt und auf Gefahren hinweist, die unterschätzt werden.

Konsequenzen medialer Fokussierung

Komplexität & Vereinfachung

Die erste Konsequenz eines rigoros auf Aufmerksamkeit orientierten Mediums muss sein, 20 dass Komplexität möglichst vermieden wird. Alles Komplexe verbraucht – wenn man so will – zu viel vom Rohstoff Aufmerksamkeit, verbraucht schlicht zu viel Zeit. Wenn die Aufgabe darin besteht, Aufmerksamkeit zu wecken und zu erhalten, so muss alles, was zu viel Aufwand verlangt, zu kostspielig erscheinen: komplexe Sachverhalte genauso wie komplexe Sätze. Nicht nur die Sprache wird deshalb zur Einfachheit tendieren, die Vereinfachung ist eigentliche Kernaufgabe und zwar primär formal, d. h. je kürzer desto besser, fast gleichbedeutend aber auch materiell, d. h. je einfacher desto besser. Alles, was sich nicht verkürzen und vereinfachen lässt, verschwindet aus der Medienwelt. Alles, aber auch wirklich alles, was sich in der Mediengesellschaft findet, ist verkürzt und vereinfacht und damit natürlich verfälscht. Jede Vereinfachung ist eine Verfälschung. Es lässt sich deshalb allgemein festhalten, dass in einer Mediengesellschaft notwendig alle Sachverhalte und Informationen verfälscht sind. Mediale Berichterstattung ist Fälschung.

Die aktuelle Lage könnte treffend mit TMI (too much information) beschrieben werden.

Aufmerksamkeit & Wahrheit: Fake News & Postfaktisches Zeitalter

Die zweite Konsequenz ist noch erschreckender, aber gleichzeitig nur folgerichtig. Ebenso wie die erste ist sie unumgänglich: Wenn das mediale System auf Aufmerksamkeit hin orientiert ist, dann spielt die Unterscheidung wahr/unwahr prinzipiell keine Rolle (es sei denn, sie selbst ist Objekt der Berichterstattung). Wenn alle Berichterstattung in gewissem Sinne Fälschung ist, dann ist die Behauptung, ein bestimmter Bericht sei falsch, bedeutungslos. Die Unterscheidung wahr/unwahr steht mithin windschief zu einem auf Aufmerksamkeit orientierten System. In der jüngeren Zeit sind zwar immer wieder einmal Begriffe wie «postfaktisches Zeitalter» oder «fake news» aufgetaucht, doch handelt es sich dabei letztlich nur um ideologische Kampfbegriffe. In einem Mediensystem ist nicht die Unterscheidung von «real» und «fake» news relevant, sondern ausschliesslich diejenige von news/not news.

Deshalb etwa ist der mediale Hinweis auf die Unschuldsvermutung, die auf ominöse Weise gelten solle, letztlich nur lächerlich, weil er etwas postuliert, das überhaupt niemanden wirklich davon abhält, und meist den Berichterstatter selbst am wenigsten, genau diese Unschuldsvermutung durch den nämlichen Bericht zu verletzen.9 In einer Mediengesellschaft ist deshalb das Strafverfahren selbst die eigentliche Strafe. Die Berichterstattung über ein Strafverfahren hat unmittelbare und konkrete Konsequenzen bis hin zum finanziellen und sozialen Ruin. Diese Konsequenzen werden nicht korrigiert oder wettgemacht, wenn am Ende des Strafverfahrens kein Schuld-, sondern ein Freispruch steht. Vielmehr wird das üblicherweise zur Vermutung führen, die Justiz sei zu schwach, die Strafnormen ungenügend oder die Verteidigungsrechte zu ausgebaut. Ein Freispruch wird medial nicht als ein Sieg der Justiz gewertet, sondern als eine Niederlage.10 Das erscheint auch völlig richtig, sofern bereits vor dem Urteilsspruch klar ist, wer schuldig und zu verurteilen ist. Der Strafprozess muss dann nur noch als ein mehr oder weniger interessanter Todeskampf eines Sterbenden erscheinen, seine Verteidigung als Störung des vergnüglichen Schauspiels, ganz so wie bei einer Corrida ein Verteidiger des Stieres nicht wirklich 21 vorgesehen oder erwünscht ist. Ein Freispruch kann deshalb die Berichterstattung über das Strafverfahren nicht mehr aufheben, nicht nur weil er immer zu spät kommt, weil die Berichterstattung ja notwendig auf der Annahme basieren muss, dass nicht nur das Delikt begangen, sondern auch die Täterschaft bestimmt ist, ansonsten sie zur blossen Spekulation und damit belanglos würde.

Die beredten Klagen über den Verlust von Wahrheit und Neutralität, die in jüngster Zeit geführt werden, können mithin nichts anderes sein denn Krokodilstränen. De facto sind Wahrheit und Neutralität in einem System, das ausschliesslich Aufmerksamkeit erstrebt, überhaupt nicht möglich. Dass aber dieses System nichts anderes erstrebt bzw. erstreben kann, wird durch seine Ökonomisierung sichergestellt, denn jeder Versuch, an dieser Aufmerksamkeitsorientierung vorbei zu gelangen, führt das Medium notwendig in den Bankrott, ebenso wie ein Politiker, der nicht seine Wahl ins Zentrum stellt, schlicht gar nichts mehr zu entscheiden hat, sobald er nicht mehr gewählt wird. Es gibt also gar keine «fake news» im eigentlichen Sinn, bzw. die Bezeichnung «fake news» ergibt nur dann Sinn, wenn sie selbst wiederum «news» ist, d. h. genau dann, wenn die Bezeichnung «fake news» für einen beliebigen Inhalt selbst Aufmerksamkeit beanspruchen kann. Und «postfaktisches Zeitalter» meint nichts anderes, als «Zeitalter der Mediengesellschaft» oder «Medienzeitalter».

Verzerrung & Angst

Aus dem Fokus auf die Aufmerksamkeit ergibt sich zwanglos, dass mediale Berichterstattung nicht ausgewogen sein kann. Das gilt auch für das Recht. Strafrecht etwa wird anderen Rechtsgebieten gegenüber selbstverständlich bevorzugt. Und auch innerhalb dieses Bereiches, ist – was oft dargestellt wurde und deshalb hier nicht weiter ausgeführt werden muss – die Berichterstattung über Kriminalität und Strafjustiz stark (bisweilen grotesk) verzerrt. Schwere Delikte und Gewaltdelikte sind natürlich überproportional vertreten, weil sie – nicht nur der Intensität des Eingriffs wegen, sondern gerade auch wegen ihrer Seltenheit – mehr Aufmerksamkeit generieren als häufige Delikte. Ist Aufmerksamkeit das Ziel, wird notwendig alles Aussergewöhnliche viel stärker präsent sein, als es seiner Häufigkeit entspricht. Darin unterscheiden sich Medien nicht von unserer eigenen Wahrnehmung. Menschliche Kognition kann geradezu als Mechanismus verstanden werden zur Erkennung von Aussergewöhnlichem. Denn die Erkennung von Strukturen dient letztlich nur dazu, den gegenwärtigen Moment mit bereits Bekanntem zu verknüpfen, damit es ausgeblendet und ignoriert und der Fokus auf die Gegenwart und ihre Gefahren gelegt werden kann.

In dieser Struktur völlig konsistent wird v.a. über – faktisch sehr seltene – schwere und schwerste Kriminalität, insbesondere Gewaltkriminalität berichtet. Diese (im Verhältnis zur empirisch messbaren Kriminalität) Verzerrung der Berichterstattung bewirkt, dass die Bevölkerung (die ja in einer Mediengesellschaft aus den Medienkonsumenten besteht) das Kriminalitätsaufkommen (1) deutlich überschätzt, (2) grundsätzlich annimmt, Kriminalität nehme zu, und (3) diese Kriminalitätsbelastung als erheblich angsteinflössend bzw. beängstigend erlebt, auch wenn sie ausserhalb der Medienwelt bloss marginal existiert. Plakativ und vereinfachend ausgedrückt, lässt sich sagen, dass mediale Berichterstattung über Kriminalität eine Maschine zur Erzeugung von Angst ist. Die Maschine lebt unmittelbar von ihrer Angstproduktion. Sobald sich deren Niveau senkt, sinkt auch der Pegel der Aufmerksamkeit und damit auch die Bedeutung bzw. die Berechtigung der Maschine (des Mediums) selbst.

Elektronische Kommunikation: Weltmoment & Angstmaschine

Potenziert wird die Angstproduktion durch die Globalisierung. Je grösser das räumliche Einzugsfeld, aus dem über Dinge berichtet werden kann, die Aufmerksamkeit erzeugen, desto grösser auch das Reservoir von Beängstigendem, Bedrohlichem und deshalb Interessantem. Die 22 Multiplikation des Angebots solcher Moritaten allerdings verändert per se noch nichts. Ein aussergewöhnliches Verbrechen oder ein Terroranschlag in den USA oder China sind hier nicht sonderlich von Interesse, wenn erst Wochen oder Monate später darüber berichtet wird. Anders ausgedrückt: Die Vergangenheit generiert keine oder nur geringe Aufmerksamkeit, egal wo sie stattgefunden hat. Zum zahlenmässig vergrösserten (weil weltweiten) Angebot von Schreckensnachrichten muss ein zweiter Faktor hinzukommen: Synchronizität oder Zeitgleichheit. Erst die unmittelbare, verzögerungslose Übertragung generiert eine Gleich-Zeitigkeit, die das Ereignis bzw. die mediale Berichterstattung unabhängig werden lässt von irgendeinem Ort. Obwohl in der menschlichen Erfahrungswelt natürlich alles an einem konkreten Ort stattfindet, also lokal, und obwohl selbstverständlich jeder Medienbericht sich auf eine bestimmte Situation, eine konkrete Örtlichkeit bezieht, ansonsten er – weil kaum verständlich – kaum zu vermitteln wäre, wird diese räumlich-geographische Ver-Ortung durch die verzögerungslose Multiplikation des Medienberichtes regelrecht ausgedünnt und bloss zu einem (letztlich austauschbaren) Teil der erzählten Geschichte. Weil der Medienbericht gleich-zeitig überall stattfindet, wird auch das Ereignis, über das er berichtet, global. Er findet überall gleich-zeitig statt und verliert damit seine räumliche Fixierung. Das konkret fixierte, räumlich-zeitliche Ereignis wird zum globalen Ereignis, das keinen Ort mehr kennt und keine räumlich-geographische Anknüpfung. Die globale Gleichzeitigkeit produziert eine Zeit(-gleichheit). Es entsteht ein «Weltmoment», eine Gegenwärtigkeit des Augenblicks, den alle gleichzeitig wahrnehmen und erleben, egal wo sie sind. Elektronische Kommunikation eliminiert den Raum und besteht ausschliesslich aus dem allgegenwärtigen Moment, den sie erschafft.

Gegenwart, d. h. dieser ständig flüchtige Moment, in welchem wir tatsächlich existieren, und den wir Augenblick nennen, ist ohnehin gewalttätig im eigentlichen Sinn, weil wir ihn nie zu kontrollieren oder beherrschen vermögen. Immer sind wir ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und sobald wir versuchen, damit fertig zu werden, ist er schon nicht mehr. Mit der Elimination des Raumes und der Globalisierung des Momentes wird das medial Berichtete überall gleichzeitig aktuell, denn die Rede von der blossen «Abrufbarkeit» eines Medieninhaltes verschleiert, dass er eben – gleich einem Quantenphänomen – gar nicht existiert, wenn niemand hinschaut. Schaut aber jemand hin, findet er immer überall gleichzeitig statt. Alles, was Aufmerksamkeit generiert, Aussergewöhnliches ebenso wie Bedrohliches und Gefährliches, findet überall gleichzeitig statt, der Augenblick ist global. Ein Terroranschlag in den USA ist genauso beängstigend wie einer in Frankreich. Während umgekehrt Anschläge in Afrika oder Asien medial kaum existieren. Die elektronische Kommunikation als Form von Globalisierung verstärkt deshalb notwendig die Leistung der Angstmaschine. Und zwar höchst erfolgreich. Die erschreckend schnelle Abkehr von Freiheit, Autonomie und Gerechtigkeit, die man wohl als ein eigentliches Abfallen bezeichnen muss, zugunsten einer fast schrankenlosen Orientierung auf Sicherheit als primären gesellschaftlichen Wert, lässt sich vielleicht nicht nur, aber sicherlich zu einem Grossteil damit erklären. Nicht das Medium selbst also ist eigentlicher Motor der Entwicklung, denn Fokussierung auf Unglücksfälle und Verbrechen gab es seit jeher. Vielmehr ist massgeblich die elektronische Kommunikation, die durch ihre verzögerungslose Vervielfältigung den Raum eliminiert und eine globale Gleich-Zeitigkeit entstehen lässt.

Der häufig vorgebrachte Wunsch nach einer «neutralen» und «sachlichen» Berichterstattung muss aus all diesen Gründen Wunschtraum bleiben, zumindest soweit Berichterstattung nicht über andere Ressourcen finanziert wird als über die Aufmerksamkeit selbst.11

23 Resultat

Trivialisierung & Identifikation

Die Bedingungen der Mediengesellschaft verändern unsere Welt vollständig, nicht dadurch, dass Bestehendes verändert würde, sondern dadurch, dass es durch anderes ersetzt wird. Die schiere Masse der Information ebnet den Unterschied von bedeutsam und unbedeutsam. Die quantitative Überforderung unserer Wahrnehmungsfähigkeit lässt vieles, wenn nicht alles gültig erscheinen, gleich gültig, d. h. gleichgültig. Mediengesellschaft trivialisiert umfassend einfach alles. Auf den Verlust der direkten, sinnlichen und persönlichen Erfahrung reagieren wir genau so wie Kinder, nämlich mit der Identifikation mit bestimmten Personen (sog. peoplization). Wofür diese Personen stehen und was sie symbolisieren, bleibt völlig gleichgültig. Deshalb bleibt auch ganz irrelevant, warum wir diese Personen überhaupt kennen oder warum wir uns mit ihnen identifizieren. Wie dem Kind in Bezug auf seine Eltern stellen sich uns diese Fragen schlicht nicht. Die Bedeutung dieser Personen bzw. unserer Identifikation mit ihnen ist selbstbegründend. Als Begründung medialer Existenz bzw. medialen Ruhmes reicht die Tatsache ihrer medialen Existenz bzw. ihres medialen Ruhmes völlig aus. Sinnlos bleibt daher die Klage, die «Medien» würden zu Unrecht bedeutungslose oder gar durch und durch dumme Menschen berühmt machen. Der mediale Fokus auf das Aussergewöhnliche erbringt dieses Resultat ganz natürlich. Viel problematischer, ja geradezu katastrophal sind die Auswirkungen auf die Demokratie. Die sog. peoplization etwa, also die eben erwähnte – im Wesentlichen grundlose –Identifikation mit einzelnen Personen, hat zur Folge, dass mit ihnen irgendwie verbundene Personen wie Ehepartner, Kinder oder Verwandte ebenfalls medial zu existieren beginnen bzw. berühmt werden. Aus der Tatsache ihrer medialen Existenz, also ihrer Bekanntheit leitet sich dann zwanglos die Vermutung ab, solche Personen seien ebenso fähig die Tätigkeiten oder Funktionen auszuüben, wie diejenige Person, derentwegen man sie überhaupt kennt. Solche Machtballungen und Verquickungen sind nach offizieller Lesart eigentlich Kennzeichen ungefestigter, noch unreifer Demokratien. Sie finden sich aber sehr prominent in alten, scheinbar gefestigten Staaten. Es erscheint doch einigermassen merkwürdig, dass in Kanada der Sohn eines ehemaligen Premierministers selbst Premierminister wird. Noch auffälliger sind die USA mit den Familien Kennedy oder noch eindrücklicher Bush. Dass unter allen Frauen in den USA ausgerechnet die Ehefrau eines ehemaligen Präsidenten für dieses Amt kandidierte, lag wohl weniger an ihrem Geschlecht, als eben gerade diesem Ehemann. Demokratie wird zum Schauspiel.

Skandalisierung & Panik

In einer nicht unmittelbar sinnlich erfahrenen oder erfahrbaren Welt (der Medienwelt) mündet der Fokus auf das Aussergewöhnliche notwendig in Skandalisierung und Panik. Bildet die sinnliche Erfahrung in unserer konkreten unmittelbaren, sinnlich bestimmten Lebenswelt eine mächtige Schranke für unsere Phantasien und Phobien, für unsere Ängste und Träume, fehlt diese Beschränkung in der Mediengesellschaft praktisch vollständig. Ohne Medikation oder andere Korrektive muss das notwendig in einer Psychose enden.

Ängste und Phobien sind immer irgendwie begründbar und daher begründet. Sie lassen sich nicht widerlegen, weil die Nichtexistenz bzw. das Nichteintreten des Befürchteten eben gerade keinen Beleg für ihre Unvernunft darstellt. Eine Wahnvorstellung lässt sich nicht widerlegen, sondern nur bestätigen, nämlich dadurch dass sie sich realisiert. Jeder Fehler, jeder Schaden, jedes Unglück bestätigen dem Wahnhaften seine Phobie. Dass sie eintreten konnten, belegt ihm zweifelsfrei das Ungenügen der bestehenden Regulierung und Kontrolle. Wo keine Korrektive der eigenen Möglichkeitsvorstellungen und Phobien bestehen, erlangt die Vorstellung einer kontrollier- und regulierbaren Welt fast magische Kraft. Die Regulierungswut, die wir gegenwärtig fast überall beobachten, ist nichts anderes als natürlicher Ausfluss dieser neurotischen Grundannahmen. 24 Regulierung und Kontrolle haben den grossen Vorteil, dass sie die nicht unmittelbar sinnlich erfahrbaren Phobien gewissermassen erfahrbar machen, wenn auch nur vorläufig und immer ungenügend. Zudem lässt sich der blossen Vorstellung möglicher Gefahren und Risiken (also demjenigen, was sein könnte) am einfachsten mit einem anderem Modus, also mit anderen Vorstellungen begegnen, namentlich derjenigen, dass die Welt kontrollierbar sei (also mit demjenigen, was sein soll bzw. nicht sein darf). Anders ausgedrückt: Dem, was sein könnte, wird entgegengesetzt, was sein soll bzw. darf. Damit wird indes nur ein Modus durch einen anderen ersetzt, nicht aber dasjenige geändert, was unmittelbar, konkret und sinnlich erfahrbar ist. Stets bleiben daher notwendigerweise alle bestehenden Regulierungen und die aktuelle Kontrolle ungenügend. Das Ausleben der Kontrollphantasie hat nicht nur besänftigende Wirkung auf den Phobiker, sie erlaubt gleichzeitig auch Entlastung von Eigenverantwortung: Wer alles in seiner Kraft Stehende getan hat, das Eintreten eines Ereignisses zu verhindern, den kann kein Vorwurf treffen. Vielmehr ist das Ereignis unzureichender Regulierung bzw. Kontrolle geschuldet.

Am Beispiel des Strafrechtes lässt sich das exemplarisch zeigen: Strafrecht ist medial höchst lohnend. In der Mediengesellschaft mündet aber jede mediale Diskussion notwendig in der Forderung nach seiner Expansion und Verschärfung. Stets müssen die aktuell geltenden Strafen ungenügend erscheinen, ansonsten ja – im Kontrollwahn völlig konsistent – das fragliche störende Ereignis gar nicht eingetreten wäre. Diese Forderungen garantieren einen guten Platz im medialen Aufmerksamkeitswettbewerb, weil von ihr alle Beteiligten (Politiker, Medien, gesellschaftliches Unterhaltungsbedürfnis) profitieren. Dass die Forderung völlig sinnlos ist und wirkungslos bleiben muss, weil nicht die Strafe, sondern die Entdeckungswahrscheinlichkeit menschliches Verhalten beeinflusst, spielt deshalb keine Rolle, weil eine entsprechende Erkenntnis (1) komplexere Darstellungen und Gedankengänge voraussetzt, und (2) Sinn- und Wirkungslosigkeit nicht überprüfbar bzw. sinnlich erfahrbar sind. Mangelnde Überprüfbarkeit lässt sich zudem leicht kachieren durch den Hinweis auf die notwendige Zeitdauer möglicher Änderungen, die typischerweise jenseits einer Wahlperiode liegt. Gleiches gilt für die Kosten der Repression.

Zeitalter der Quantenphysik

Mit der Mediengesellschaft treten wir ein in das quantenphysikalische Zeitalter. (1) Globale Berichterstattung ist überall und nirgendwo. (2) Sie ist auch nicht vergangen, gegenwärtig oder zukünftig, denn die Ubiquität des Geschehens eliminiert die Zeit. Es gibt keine Vergangenheit in der Mediengesellschaft. Nichts ist je vergangen, alles ist stets gegenwärtig (wenngleich eben nicht unmittelbar sinnlich erfahrbar). (3) Beobachten verändert das Beobachtete. Ein von der Beobachtung unabhängiges Objekt der Beobachtung, also eine feststellbare Wirklichkeit, die nicht durch die Beobachtung verändert würde, kann es in der Mediengesellschaft nicht geben. Natürlich galt schon für einen Zeitungsbericht im 18. Jahrhundert, dass er die Welt veränderte, weil der Zeitungsartikel Auswirkungen hatte und damit die Welt veränderte. Doch geschah dies eben in einem Zeitstrang als Wechselspiel zwischen beobachteter Wirklichkeit und Bericht über diese Beobachtung. Die beiden liessen sich trennen. Das trifft in der Mediengesellschaft nicht mehr zu. Besteht die Wirklichkeit aus medialen Berichten (über eine wie immer geartete andere Welt oder Wirklichkeit), dann ist jede medial geäusserte Beobachtung und jeder Bericht notwendig Teil dessen, worüber er berichtet. (4) Tatsächlichkeit wird eingetauscht gegen Potentialität, Sicherheit gegen Möglich- und Wahrscheinlichkeit, Indikativ gegen Konjunktiv, Bestimmtheit gegen Unschärfe.

Nagelprobe: Die Auflösung aller Grenzen und Unterscheidungen lässt sich schön am Recht nachvollziehen: Recht besteht aus Entscheidungen. Sollen Begriffe dabei helfen, so müssen sie so scharf und klar als überhaupt möglich sein. 25 Sie müssen daher Unterscheidungen treffen und Grenzen ziehen, ansonsten sie zur Entscheidung nichts beizutragen vermögen. Ein kurzer Blick in irgendeine Tageszeitung genügt indes zum Beleg, dass gerade dieses Element sich in vollständiger Auflösung befindet. Dass ein Begriff oder ein Rechtskonzept Grenzen zieht, wird medial zunehmend als Schwäche oder gar Fehlleistung qualifiziert, weil ein bestimmter Sachverhalt, ein bestimmtes Verhalten doch fast eine bestimmte Norm erfülle, es doch moralisch, ethisch, ökonomisch, politisch oder wertmässig eigentlich dasselbe sei, wie das von der Norm erfasste. Die Unterscheidung bzw. Grenzziehung des Rechts werden daher als inflexibel, unpraktisch und hinderlich, wenn nicht gar unmoralisch gewertet, weshalb sie «weiter» verstanden werden müssten. Dies aber eliminiert das Recht selbst. Begriffe, die alles heissen können, taugen rechtlich nichts. Sie taugen höchstens zu einem Rechtstheater.

1

Ein Teil des vorliegenden Textes wurde als Teil eines anderen Beitrages bereits veröffentlicht (Marcel Niggli/Stefan Maeder: Öffentliche Wahrnehmung von Strafe in der Mediengesellschaft, Positive Generalprävention im 21. Jahrhundert; in: A. Kuhn et al. [Hrsg.], Strafverfolgung – Individuum – Öffentlichkeit im Spannungsfeld der Wahrnehmungen, Bern 2017, 297–333).

2

Odo Marquard, Zeitalter der Weltfremdheit?, in: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, 76 ff., 82 ff.

3

Odo Marquard, Zeitalter der Weltfremdheit?, in: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, 76 ff., 82 f.

4

Vgl. dazu Christine Meltzer, Medienwirkung trotz Erfahrung, Wiesbaden 2017.

5

Bruno Clem, Gefühl der Präzision, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.11.2016, <http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/wahlprognosen-standen-gegen-donald-trump-wo-lag-der-fehler-14521910.html>, [06.11.2018].

6

Vgl. etwa Byung-Chul Han, Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2014.

7

Was natürlich gar nicht sein kann, ansonsten sie sich im Verlaufe der Evolution selbständig erledigt hätten und nicht mehr präsent wären. Die Annahme, Emotionen seien unvernünftig ist daher selbst ganz unvernünftig.

8

Verwiesen sei nur summarisch auf die Psychologie des Begehrens gemäss Jacques Lacan.

10

So etwa geschehen und leicht zu überprüfen am Beispiel Vojisla Seseli, der in Den Haag freigesprochen wurde, was als Desaster bezeichnet und als Beschädigung der internationalen Gerechtigkeit bezeichnet wurde.

11

Vgl. dazu auch Gilbert Keith Chestertons über hundertjähriger Text «Distortions in the Press», abgedruckt in dieser Nummer.

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Was ist Mediengesellschaft?
von Marcel Alexander Niggli
Niggli. Was ist Mediengesellschaft. L. C
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