Strafrecht & strafrechtliche Anklage
Marcel Alexander Niggli
BGE 142 II 243, 252 f.
49 Im Jahr 2016 hat sich das Bundesgericht zum Berufsverbot in BGE 142 II 243, 252 f., E 3.4 wie folgt vernehmen lassen:
«3.4 Gemäss der Rechtsprechung des EGMR liegt eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK vor, wenn alternativ entweder das nationale Recht eine staatliche Massnahme dem Strafrecht zuordnet oder die Natur des Vergehens oder die Art und Schwere des Vergehens und/oder die Sanktion für einen strafrechtlichen Charakter sprechen (vgl. zu den Engel-Kriterien ausführlich BGE 140 II 384 E. 3.2.1 S. 388 f.; BGE 139 I 72 E. 2.2.2 S. 78 f.; grundlegend Urteil des EGMR Engel gegen Niederlande vom 8. Juni 1976, Serie A Bd. 22). Das gegen den Beschwerdeführer ausgesprochene Berufsverbot hat seine Rechtsgrundlage in Art. 33 FINMAG und damit im Kapitel über die aufsichtsrechtlichen Instrumente eines wirtschaftspolizeilichen Erlasses (Art. 5 FINMAG; zur wirtschaftspolizeilichen Natur des Finanzmarktaufsichtsrechts vgl. anstatt vieler KILGUS, Expertengutachten betreffend die Regulierungs- und Kommunikationstätigkeit der FINMA, erstattet dem Eidgenössischen Finanzdepartement, vom 4. August 2014, www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/37802.pdf, […], N. 30).
[…]
Gilt das Verfahren auf Erlass eines Berufsverbots im Sinne von Art. 33 FINMAG nicht als eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II, finden die aus diesen Bestimmungen abgeleiteten Garantien (oben E. 3.3) keine Anwendung.»
Das mag ja sein. Greift aber schlicht zu kurz und erinnert fatal an die in jüngerer Zeit entwickelte Gewohnheit von Rechtsstudenten, auf eine beliebige Frage von irgendeiner verfassungsrechtlichen Relevanz – statt erst einmal die Verfassung selbst zu konsultieren – sofort die EMRK als Antwort anzuführen, gleich einer Bibel, die auf alle Fragen die Antwort enthält (leider ganz ähnlich G. Braidi, L’interdiction d’exercer selon l’art. 33 LFINMA, SZW 2013, 204–219, 215 f.; D. Graf, Berufsverbote für Gesellschaftsorgane, AJP 2014, 1195–1206, 1201 f.; F. Uhlmann, Berufsverbot nach Art. 33 FINMAG, SZW 2011, 439–448, 441; P. Ch. Hsu/B. Rashid/D. Flühmann, Kommentar zu Art. 32, in: R. Watter/P. Vogt (Hrsg.) BSK, Börsengesetz und Finanzmarktaufsichtgesetz etc., 2. Aufl., Basel 2011). Dieser Fokus ist leider falsch. Kreuzfalsch.
Zum einen legt die EMRK nur einen prozessualen Mindeststandard fest, weshalb daraus nicht viel abgeleitet werden kann. Die Garantien müssen zudem nur einmal im Verlaufe des ganzen Verfahrens verwirklicht 50 werden bzw. – noch schöner – im Verfahren insgesamt über alle Instanzen, also als Ganzes. Wären dies tatsächlich die einzigen Verfahrensgarantien die das Schweizer Strafprozessrecht böte, so sähe es schlimm aus um unsere Zukunft. Nicht zuletzt durch die andauernden Verweise auf die EMRK – ganz so als gäbe es daneben nichts anderes – bewegen wir uns tatsächlich auf einen Zustand zu, der als Goldstandard gelten soll, aber wohl eher ein Kupfer- oder gar Bleistandard darstellt. Das führt zu einer klaren Reduktion der nationalen Prozessgarantien, wollte man sich tatsächlich daran orientieren.
Zum anderen aber sei daran erinnert, dass das StGB seit 1942 in Kraft ist, die EMRK von 1951 datiert und für die Schweiz erst 1974 in Kraft getreten ist. Das StGB aber enthält, was man den auf das Verwaltungsrecht orientierten Juristen vielleicht hin und wieder in Erinnerung rufen sollte, einen Art. 1 (das sog. Bestimmtheitsgebot), dem nach einhelliger Lehre und Rechtsprechung Verfassungsrang zukommt (Art. 1 [1. Keine Sanktion ohne Gesetz]: Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt.). Es kann ja nicht wirklich sein, dass diese Bestimmung über 30 Jahre unbestimmt war, weil sie auf die EMRK warten musste zu Bestimmung ihres Gehaltes.
Dasselbe Gesetz enthält in Art. 333 StGB eine Bestimmung, nach welcher die Allgemeinen Bestimmungen (Art. 1–110 StGB, sog. Allgemeiner Teil) auf Strafnormen anderer Gesetze Anwendung findet (Art. 333 [Anwendung des Allgemeinen Teils auf andere Bundesgesetze]: 1 Die allgemeinen Bestimmungen dieses Gesetzes finden auf Taten, die in andern Bundesgesetzen mit Strafe bedroht sind, insoweit Anwendung, als diese Bundesgesetze nicht selbst Bestimmungen aufstellen).
Strafrechtliche Anklage vs. Strafe
Das Konzept der strafrechtlichen Anklage ist in Art. 6 EMRK statuiert und grundsätzlich prozessual. Es bezweckt die Garantie eines «fairen Verfahrens» und meint daher primär das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht und ein öffentliches Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Wird etwas als strafrechtliche Anklage qualifiziert, so fliessen daraus (Art. 6 Abs. 2 und 3 EMKR) spezifische Garantien, namentlich die Unschuldsvermutung sowie bestimmte Verfahrensrechte (rechtliches Gehör etc.).
Aus diesem Fokus wird die Praxis des EGMR verständlich, Disziplinarmassnahmen (insbesondere bei Strafgefangenen, Soldaten etc.) nicht als strafrechtliche Anklagen zu qualifizieren. Denn andernfalls müssten die entsprechenden Verfahren vor unabhängigen, unparteiischen Gerichten öffentlich geführt werden, was häufig nahezu unmöglich wäre.
Deutlich wird damit aber auch, dass damit noch überhaupt nichts darüber gesagt ist, was denn eine Strafe sei. Diese Frage bleibt für das Konzept der strafrechtlichen Anklage notwendig belanglos dort, wo es eben nicht um die entsprechenden Verfahrensgarantien geht. Genau das Gegenteil aber gilt für die Garantien des nationalen Rechts, insbesondere die verfassungsrechtliche Garantie des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 1 StGB) und die Anwendbarkeit der allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (Art. 333 StGB).
Der Begriff der Strafe hat in Art. 1 StGB die Bedeutung, dass nach den Voraussetzungen einer Strafbestimmung überhaupt gefragt wird:
Ist die Bestimmung so klar formuliert, dass der Rechtsunterworfene wissen konnte, was strafbar ist und was nicht?
Ist die Bestimmung so klar formuliert, dass der Rechtsunterworfene – vor der inkriminierten Handlung – erkennen konnte, welche Konsequenzen ein Verstoss gegen diese Bestimmung haben würde?
Der Begriff der Strafe hat in Art. 333 StGB die Bedeutung, über die Anwendung der Garantien 51 des AT StGB zu entscheiden, also z. B. über den sog. subjektiven Tatbestand (Art. 12 StGB: Strafbarkeit nur bei Vorsatz bzw. bei Fahrlässigkeit nur dort, wo dies ausdrücklich statuiert wird), die Verjährung (Art. 97 ff. StGB), Irrtum (Art. 13 StGB), Versuch (Art. 22 f. StGB), Teilnahme (Art. 24 f. StGB), aber auch über Rechtfertigung und Schuld. Zu alledem kann natürlich der Begriff der strafrechtlichen Anklage nichts beitragen. Entsprechend lässt sich mit ihm auch nicht entscheiden, ob Disziplinarmassnahmen grundsätzlich, oder wenigstens eine spezifische Disziplinarmassnahme eine Strafe sei nach Schweizer Recht. Die Frage ist keine unbedeutende, wie sofort deutlich ist, wenn bedacht wird, dass eine Verneinung dazu führt, dass weder Bestimmtheitsgrundsatz, noch subjektive Elemente, noch Verjährung, Rechtfertigung oder Schuldausschlussgründe anwendbar sind.
Nicht alles, was Strafrecht ist (Art. 1 und 333 StGB), stellt auch eine strafrechtliche Anklage (Art. 6 EMRK) dar.
Konsequenzen
Daraus ergibt sich zweierlei:
Was eine Strafe sei, muss sich ohne Referenz auf die EMRK und die Praxis der europäischen Organe bestimmen lassen. Und es sollte auch ohne Referenz darauf geschehen, denn es kann sich ja – als Beispiel seien nochmals Disziplinarmassnahmen angeführt – daraus gar nicht ergeben, weil Fragen der Bestimmtheit, Rechtfertigung, Schuld oder Verjährung sich eben nicht aus Bedingungen des urteilenden Gerichtes oder prozessualen Rechten herleiten lassen.
Da sowohl Art. 1 als auch Art. 333 StGB den Begriff der Strafe verwenden, muss bestimmbar sein, was eine Strafe sei, ohne auf internationale Verträge abzustellen. Nicht nur, weil es ja 30 Jahre lang gar nicht anders möglich war, sondern auch weil eine Verfassungsbestimmung (Art. 1 StGB hat Verfassungsrang) ihren Gehalt nicht durch einen kündbaren internationalen Vertrag erhalten kann bzw. – noch deutlicher – durch die Rechtsprechung eines internationalen Gerichtes. Die EMRK bestimmt ja selbst nicht, was eine Strafe sei, das tut alleine der EGMR.
Die Kriterien dafür, was eine Strafe ist, können deshalb mit Sicherheit nicht in den sog. Engel-Kriterien bestehen.
Die Prinzipien des Schweizer Strafrechts, die in Art. 1–111 StGB statuiert werden, müssen unabhängig von der Qualifikation eines Sachverhaltes als «strafrechtliche Anklage» nach der EMRK Anwendung finden, und zwar unmittelbar aus Art. 333 StGB, sofern es sich bei der entsprechenden staatlichen Reaktion um eine Strafe handelt. Dazu zählen u. a. immerhin das Bestimmtheitsgebot (Art. 1 StGB), das Schuldprinzip (Art. 12 StGB), aber auch die Verjährung (Art. 97 ff. StGB).
Hier ist nicht der Ort, all dies zu unternehmen. Nachdrücklich hingewiesen sei aber darauf, dass die Verneinung einer Qualifikation als «strafrechtliche Anklage» und damit die Feststellung, die prozessualen Garantien der EMRK seien nicht anwendbar, schlicht in keiner Art und Weise genügen kann für die Frage, ob eine Norm eine Strafe statuiere. Die hiesigen verfassungsrechtlich (Art. 1 StGB) und strafrechtlich (Art. 333 StGB) gewährten Garantien können ja nicht durch eine Verneinung der Anwendung von Art. 6 EMRK aufgehoben bzw. negiert werden. Die Nicht-Anwendbarkeit der nationalen (verfassungsrechtlichen und gesetz- 52 lichen) Garantien muss – so dürfte doch ausser Zweifel sein – eigenständig und unabhängig von der EMRK begründet werden. Dazu aber wird der Hinweis, es handle sich nach nationalem Recht um administrative Sanktionen schlicht nicht ausreichen, denn Sanktionen sind Strafen (vgl. hierzu: Niggli, Was ist eine Sanktion? ContraLegem 2018/2, in dieser Nummer). Das führt notwendig zur Anwendung dieser Garantien. Symptomatisch dürfte sein, dass keine der vorstehend angeführten Quellen Art. 1 oder Art. 333 StGB auch nur erwähnt!
Nach dem Vorstehenden erscheint deshalb völlig zweifelsfrei, dass der Begriff der «Strafe» umfassender und weiter ist als derjenige der «strafrechtlichen Anklage». Mit anderen Worten: Nicht alles, was Strafrecht ist (Art. 1 und 333 StGB), stellt auch eine strafrechtliche Anklage (Art. 6 EMRK) dar.
Nochmals sei auf Art. 1 StGB hingewiesen, der unter dem Titel «Keine Sanktion ohne Gesetz» Strafen und Massnahmen versteht, wobei beide, also sowohl die Verhängung einer Strafe als auch einer Massnahme die Erfüllung eines strafrechtlichen Tatbestandes voraussetzen. Für beide gilt das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot. Eine Massnahme unterscheidet sich von einer Strafe nur dadurch, dass sie keine Schuld bei der Erfüllung des Tatbestandes voraussetzt. Höchst verräterisch ist, dass das Bundesgericht, das mit verzweifelter Phantasie Argumente erfindet, warum ein Berufsverbot keine Strafe sei, warum also das Gericht im selben Entscheid (E. 2.2) die Anwendung des Berufsverbotes auf ein Individuum (für Unternehmen existiert es ja gar nicht) ausdrücklich (und völlig zurecht) von einem kausalen und schuldhaften Verhalten abhängig macht. Dies aber ist bei einer Massnahme nicht angezeigt. Das Gericht geht also selbst davon aus, dass es eine Strafe verhänge, sonst nämlich wäre die Schuld, eine – im Gesetz gar nicht geforderte Bedingung – schlicht nicht nötig.