Von Liebe und Tapferkeit
Aulus Gellius
88 Im Oktober 2017 sprach das Landgericht Bonn Eric X. schuldig der Vergewaltigung. Das Gericht hielt es auf Grund der erdrückenden Beweislage für erwiesen, dass Eric X. am 2. April desselben Jahres auf den Bonner Siegauen eine 23-jährige Studentin vergewaltigt hatte. Gegen das Urteil hat der Verurteilte Revision angekündigt, eine endgültige, rechtskräftige Entscheidung steht noch aus. Soweit das Rechtliche.
Frei ist, wer liebt und frei ist, wer tapfer ist.
Was diesen Fall besonders macht, sind seine Begleitumstände. Die Studentin campierte am besagten Abend mit ihrem Freund in einem Zelt. Mitten in der Nacht erschien Eric X. mit einer Astsäge und schnitt die Plane auf. Er bedrohte das Paar, welches ihm sechs Euro und eine Lautsprecherbox im Wert von 120 Euro anbot. Eric X. genügte sich damit nicht, sondern erhob die Astsäge zur Waffe und forderte die Studentin mit den Worten «come out bitch, I want to fuck you» auf, nach draussen zu kommen. Das Pärchen, noch unter Schock, beriet sich kurz. Die Studentin entschloss sich dann in Todesangst alleine das Zelt zu verlassen und fügte sich den Aufforderungen des Angreifers. Er zwang sie, sich auf eine mitgebrachte Decke zu legen und vergewaltigte sie, stumm liess sie Tat über sich ergehen. Ihr Freund versuchte derweilen die Polizei zu alarmieren, im Zelt geblieben rief er den Notruf über sein Telephon an. Als der Täter dies bemerkte, flippte er aus, die Studentin aber behielt die Nerven, strich ihm beruhigend über die Wange, zog ihn an sich und flehte ihn an, er solle es zu Ende bringen und anschliessend verschwinden.
Während des Prozesses vor dem Bonner Landgericht verhöhnte der Täter sein Opfer, beschimpfte sie als Hure und wies jegliche Schuld von sich, das Gericht verhängte schliesslich eine Freiheitsstrafe von elfeinhalb Jahren. Dem Freund der vergewaltigten Studentin hingegen bescheinigten die Polizei und die Staatsanwaltschaft, richtig gehandelt zu haben. In den sozialen Medien war er zuvor als Feigling beschimpft worden, weil er die Vergewaltigung seiner Freundin nicht hatte verhindern können.
Es ist schwierig über Situationen und die darin «richtige» Verhaltensweise zu schreiben, wenn man Vergleichbares nicht erlebt hat. Allerdings ist dies auch das zentrale Element von Recht: die Abstraktion. Aus der Masse der Gesetzgeber haben nur Wenige diejenigen Sachverhalte erlebt, die in den Gesetzbüchern normiert werden. Eine rechtspolitische Vorstellung wird zu einer Norm, ein Verhalten wird als richtig oder falsch bezeichnet, ohne dass konkret erlebte Beispiele den Abstimmenden als Leitfäden dienen würden. Wenn Polizei und Staatsanwaltschaft dem Freund der vergewaltigten Studentin bescheinigen, richtig gehandelt zu haben, so tun sie dies mit Hinblick auf mögliche Reaktionen des Täters bei alternativem Verhalten. Sie wägen ab, freilich hypothetisch, 89 und kommen zum Schluss, dass es vorzuziehen gewesen sei, dass die junge Studentin die Vergewaltigung erduldet, statt den Täter zu provozieren und damit sich und ihren Partner einer lebensbedrohlichen Situation auszusetzen. Man kann diese Einschätzung teilen. Sie ist rational, sie ist deeskalierend und sie ist sicherer. Und doch ist sie falsch.
Wer liebt oder mal geliebt hat, wird niemals mit der Polizei und Staatsanwaltschaft zustimmen können. Die Essenz von Liebe, sofern eine solche überhaupt beschreibbar ist, liegt in der Selbstaufgabe, liegt im Ideal, das eigene Ich hinter das der geliebten Person zu stellen. Wiegt das eigene Ich, die eigene Existenz stärker, so kann nicht von Liebe gesprochen werden. Wer sich selber auf Kosten einer oder eines Geliebten schützt, hat es nicht verdient als Liebender bezeichnet zu werden. Wer die rechtliche Abstraktion in die Liebe trägt, wer abstrakt abzuwägen bereit ist, der liebt nicht, der kalkuliert. Auch eine hier nicht bestrittene Todesangst ändert daran nichts. Ganz im Gegenteil: wer liebt überwindet jede Angst.
Es besteht kein Zweifel, wer im konkreten Fall geliebt hat. Geliebt hat die Studentin, die durch ihre Einwilligung und, als die Situation zu eskalieren drohte, durch ihr aktives Eingreifen und Einreden auf den Täter, sich, aber vor allem ihren Freund schützte. Es benötigt viel Liebe, bedingungslose Liebe, dem Vergewaltiger «beruhigend über die Wange zu streichen, ihn an sich zu ziehen und ihn anzuflehen, die Sache zu Ende zu bringen».
Und der Freund? In Todesangst. Im Zelt. Alleine. Mit dem Telephon hantierend, die Polizei alarmierend. Passiv. Der Täter geht nun für elfeinhalb Jahre ins Gefängnis. Die wahre Strafe aber erleidet der Freund. Er muss jeden Morgen in den Spiegel schauen und eine Person erblicken, die, als es darauf ankam, scheiterte einzuschreiten. Die generell scheiterte. Die nicht liebte, als sie bedingungslos geliebt wurde und durch diese bedingungslose Liebe gerettet wurde. Dieses Urteil mag hart sein, es mag aus der sicheren Distanz heraus gefällt sein, eine solche Situation nie erlebt zu haben, aber es kann und es darf nicht anders lauten.
Im Ergebnis sind die Studentin und ihr Freund am Leben. Sie trägt Stigmata, die sie ein Leben lang begleiten werden, die beste psychologische Behandlung wird daran nichts ändern können. Auch trotz dieser Stigmata muss das Leben lebenswert bleiben. Ihr Partner hingegen trägt seine eigenen Stigmata. Ob das Leben mit diesen lebenswert ist, kann nicht gleichermassen klar beantwortet werden.
Die Malaise unserer Zeit illustriert die Einschätzung von Polizei und Staatsanwaltschaft. Das Leben wird höher gewertet als alles Andere. Eine Kultur aber, die eine solche Einschätzung zum Dogma erklärt, ist zum scheitern verurteilt. Leben ist allen Lebewesen inne. Was den Menschen hervorhebt, was ihn zum Menschen selber macht, ist seine Fähigkeit, Höheres als das Leben zu definieren. Das Leben ist dann nicht mehr Selbstzweck, sondern erhält einen vom Menschen, und nur von ihm, gewählten Sinn.
Zu den Höheren gehört die Liebe. Sie ist das wohl einzige universale Prinzip, das allen Menschen gleich ist. Propagiert wird also durch Staatsanwaltschaft und Polizei eine Gesellschaft ohne Liebe. Eine solche Gesellschaft ist sicherlich effizienter, Huxley hat dies illustriert. Ob sie deshalb aber als Idealtyp dienen darf, muss stark bezweifelt werden.
Zu den Höheren als dem Leben selber aber gehört auch die Tapferkeit in ihrer abendländischen Tradition. Tapferkeit ist in diesem Kontext nicht nur die Überwindung von persönlichen Ängsten, sondern das Messen mit dem Übermenschlichen, mit einem Schrecken und einer Gewalt, die monströser ist, als die individuellen Probleme, die ein jeder von uns mit sich trägt, allerdings, und das ist zentral, nicht primär für den persönlichen Ruhm oder für den einen eigenen Vorteil, sondern für etwas Höheres. In diesem Messen mit den Monstern 90 wird in der abendländischen Tradition der Heros geboren. Mit ihm erlangt ein Konzept Einzug in die Kultur, das dem Menschen die Attribute verleiht, die das Abendland in seiner klassischen Tradition geprägt haben: Unangepasstheit gegenüber willkürlichen Obrigkeiten, Freiheit, Individualismus, Kampf für ein hehres Ziel.
Durch den Heros erhält die klassisch-abendländischen Kultur ihr Herzstück, ohne ihn wäre sie nichts mehr als die Fortsetzung der morgenländischen Gehorsams- und Hierarchiekultur jenseits des Bosporus. Durch das Konzept des Heros gewinnt die klassisch-abendländische Kultur ein sie definierendes Attribut des Menschseins: Freiheit und zwar Freiheit als Ergebnis eines Kampfes gegen eine nicht-gewählte Ordnung, auch wenn der Tod der Preis dafür sein mag.
Der Heros kämpft gegen die bestehende göttliche Ordnung und gegen die Sicherheit des sich mit Allem Abfindens, weil er nicht bereit ist, seine physische Existenz über Allem zu stellen. Achill wird in jungen Jahren gefragt, ob er ein langes, erfülltes Leben wünsche, ein Leben in Eintracht und Freude und falls er dann sterbe, und sterben müsse er, so werden sich seine Kinder an ihn erinnern und um ihn trauern, deren Kinder auch noch etwas, aber er wird dann vergessen werden. Oder aber, ob er ein kurzes Leben wähle, eines im Kampfe, eines im Auf und Ab mit einem schmerzhaften Tode schliesslich, mit diesem Leben aber eine Unsterblichkeit erlange, da Jahrtausende danach sein Name noch erklingen werde. Ohne Zweifel wählt der Pelide letzteres und mit seinem Zorn beginnt dann auch die Ilias, das erste Epos des Abendlandes.
Das Heroentum ist in der klassischen griechisch-römischen Tradition zudem nur wenigen Auserwählten vorbehalten, denn nicht jeder vermag es mit den Monstern aufzunehmen. Heute jedoch wird der Begriff des Heros, sei es in seiner englischen Form «hero» oder in der deutschen Sprache als «Held» so inflationär benutzt, dass jede Lebenslage Helden gebärt, sei es von Veteranen, die aus einem Kriegseinsatz zurückkehren oder der Fussballer, der ein wichtiges Goal erzielt. Diese semantische Vergewaltigung des Heros bleibt nicht ohne Konsequenzen: Es braucht inzwischen nur noch wenig, um ein Held zu sein. Der Heros wird aber dadurch abgewertet, verweichlicht und damit ultimativ wieder in die Ordnung zurückgedrängt, ohne die Notwendigkeit mehr, Monster zu bekämpfen. Der Heros wird zu einem von Vielen. Eine Kultur aber, die eine (göttliche oder menschliche) Ordnung so hinnimmt, die nicht mehr den bewundert, der sie anzweifelt, sondern der sie bestätigt, die nicht mehr dem nachzuahmen anregt, der sich selbst für das Absolute im Menschlichen zu opfern bereit ist, ja eine solche Kultur kann Vieles sein, aber nicht mehr klassisch-abendländisch, nicht mehr zentriert um das Individuum, nicht mehr freiheitsliebend. Vielmehr verehrt eine solche Kultur das Wohl der Masse, in der die Pseudoheroen lediglich den Schein von Freiheit und Individualismus erwecken, tatsächlich aber nur Gleichschaltung und Konformität prominent vorleben. Und gleiches gilt hier auch für die Liebe: Der Liebende, der kurz die Liebe aussetzt, um sich zu retten, indem er apathisch die Vergewaltigung seiner geliebten Person duldet, kann später nicht das Lieben wiederaufnehmen. Liebe kann und Liebe darf sich, auch um des Lebens wegen, nicht unterordnen.
In dem Kampf um Freiheit, der ein Kampf um das Ich ist, entsteht dann auch das prometheuische Konzept des abendländischen Menschen und dadurch wahre Individualität. Menschsein als Auflehnung, als Akt der Rebellion gegen eine nicht-gewählte Ordnung, gegen eine (göttliche) Hierarchie, aus Liebe zu Anderen. Der in der klassischen Antike verehrte Suizid, heute verachtet, zeugt davon. Durch den Freitod ist der Mensch Herr des Endes seiner Existenz und setzt dieses Ende dann an, wenn er es für richtig hält und nicht, wenn Biologie (und Götter) es wollen. An diesem Punkt treffen sich dann Liebe und Tapferkeit. Beide lehnen eine fremdgesteuerte Unterordnung strikt ab, denn jegliche Unterordnung würde dem Höheren, 91 das der Liebe und der Tapferkeit innewohnt, widersprechen. Die Ablehnung einer ferngesteuerten Unterordnung aber bedeutet nicht, dass überhaupt keine Unterordnung erfolgt. Liebe und Tapferkeit sind immer auch ein Akt einer selbstgewählten Unterordnung unter ein Ideal. Des Liebenden Liebe gilt einer anderen Person (sonst wäre es nur Narzissmus), der Tapfere ist tapfer für das Wohl Anderer (sonst wäre es nur ein Überlebenskampf). So wie Prometheus das Feuer nicht für sich selber stiehlt, so kämpft auch Achill vor den Toren Ilions nicht für seine eigenen Machtgelüste («Nicht ja wegen der Troer, der lanzenkundigen, kam ich, Mit hierher in den Streit; sie haben’s an mir nicht verschuldet», Ilias, 1. Gesang 152 f.). Diese selbstgewählte Unterordnung, im Gegensatz zur fremdgesteuerten, ist Ausdruck einer Freiheit, welcher der Liebe und der Tapferkeit inhärent ist und diese Freiheit, welche gleichzeitig auch die Übernahme von Verantwortung für Dritte ist, kommt erst in der Liebe und in der Tapferkeit zur Geltung: Frei ist, wer liebt und frei ist, wer tapfer ist. Dass Liebe Tapferkeit benötigt und Tapferkeit Liebe (und beide keinen Überlebenswillen), führt diese Ideale in eine wechselseitige Abhängigkeit, in der sich das Lebensübersteigende schliesslich manifestiert.
Der Student, in seiner Angst und in seiner dadurch hervorgebrachten Lähmung, handelte nicht. Er blieb im Zelt. Aus Liebe hätte er handeln müssen und auch aus Tapferkeit. Nicht, um der Welt zu zeigen, dass er kein Feigling ist. Sondern um zu zeigen, dass niemand sich an der Liebe vergehen kann, ohne auf Widerstand zu treffen. Er hätte die Liebe tapfer verteidigen müssen und damit der Tapferkeit selber gehuldigt. Nicht nur der Schutz seiner Freundin wäre also geboten, sondern der Schutz von etwas Höherem als dem Leben. Er verpasste es in die Nähe der Sphäre eines Heros zu kommen. Er schätzte sein Leben höher ein. Er verging sich an der Liebe und er verging sich an der Tapferkeit und blieb damit unfrei. Die Polizei und Staatsanwaltschaft bestätigten ihn dabei. Diese Haltung mag dem Rechtsfrieden dienen, aber es ist eine Haltung, die Ordnung und Sicherheit über das Richtige, über das Unumgängliche, über die Pflicht zur Liebe und über die Pflicht zur Tapferkeit stellt. Wer das aber tut, der raubt dem Menschen und damit dem Leben den Sinn, der propagiert ein sinnentleertes, ein sklavisches, ein der Ordnung und der Sicherheit verschriebenes Leben, ohne Freiheit und ohne Individualismus und vor allem: ohne Liebe.