Wissenslücke «Lohnlücke »

Urs ThalmannMarcel Alexander NiggliWissenslücke «Lohnlücke»LContraLegem20191515

Wissenslücke «Lohnlücke»

Urs Thalmann / Marcel Alexander Niggli

Anmerkungen zum Gender Pay Gap

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Grundsätzliches

Am 14.5.2018 war es wieder einmal soweit. Das Schweizer Bundesamt für Statistik veröffentlichte in einer Pressemitteilung die ersten Analyseresultate der Lohnstrukturerhebung für das Jahr 2016. Besondere Aufmerksamkeit fand wie jedes Mal der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern, auch bekannt als Lohnlücke oder Gender Pay Gap. Und prompt stand denn anderntags in einem Teaser auf der ersten Seite des Tagesanzeigers: «Frauen verdienen in der Privatwirtschaft im Schnitt 14.6 Prozent weniger als Männer. Die Differenz lässt sich zum Teil mit Kriterien wie Erfahrung und Verantwortung erklären. Die nicht erklärbare Differenz heisst Lohndiskriminierung.» Gut ein Jahr zuvor (7.3.2017) titelte die gleiche Zeitung zur abschliessenden Analyse der Lohnstrukturerhebung 2014: «Frauen verdienen 20 Prozent weniger». Das wird jeweils aufgeregt diskutiert und in der Regel als krasser Verstoss gegen die Bundesverfassung eingeordnet. Denn in der Verfassung steht in Artikel 8 Absatz 3: «Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit». Die Pressemitteilung des Bundesamts für Statistik vom 31.1.2019 zur Analyse der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern, wiederum für das Jahr 2016, trug den Titel: «Lohnungleichheit: 2016 verdienten Frauen 19.6 % weniger als Männer».

Drei Dinge fallen auf: (1) Die Lohndifferenz ist gemäss Presse vom 14.5.2018 von griffigen 20 % für das Jahr 2014 zuerst um satte 5 Prozent- 6 punkte auf 14.6 % für das Jahr 2016 gefallen, betrug aber für das gleiche Jahr (2016) gemäss Pressemitteilung des Bundesamtes vom 31.1.2019 wieder 19.6 %, die einprägsamen rund 20 %. (2) Was von der Differenz nicht durch bestimmte Kriterien wie Erfahrung und Verantwortung erklärt werden kann, wird als Lohndiskriminierung bezeichnet. (3) Der Begriff «gleichwertige Arbeit». Diesen drei Auffälligkeiten gehen wir in diesem Artikel etwas nach.

Um es gleich vorweg zu nehmen und deutlich zu sagen: Natürlich sollen Frauen und Männer für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen. Inwiefern gleiche Arbeit und gleichwertige Arbeit das Gleiche sind, darauf kommen wir später zurück. Zuerst zu den Punkten (1) und (2), die mit Statistik zu tun haben.

Punkt 1 ist schnell geklärt, sofern der Unterschied zwischen Durchschnitt (Mittelwert) und Median (Zentralwert) bekannt ist. Die griffigen 20 % Lohnunterschied (tatsächlich 18.1 % in der Gesamtwirtschaft) der Lohnstrukturanalyse 2014 bezogen sich auf den Durchschnittslohn, also den Mittelwert für die Privatwirtschaft, während sich die 14.6 % der ersten Ergebnisse von 2016 auf den sogenannten Medianlohn in der Privatwirtschaft bezogen. Alle wissen, was ein Durchschnitt ist, beispielsweise der Mittelwert der Löhne mehrerer Personen. Nun sind die Löhne notorisch ungleich verteilt: Es gibt viele eher mittlere und tiefe Löhne und wenige hohe und sehr hohe Löhne. Die hohen und sehr hohen Löhne haben einen beträchtlichen Einfluss auf den Mittelwert (den Durchschnitt), sie ziehen ihn gewissermassen in die Höhe. Solch unsymmetrischen Verteilungen kann man in der Statistik mit dem Median Rechnung tragen. Der Medianlohn ist derjenige Lohn, über und unter dem jeweils die Hälfte der Löhne liegen. Extreme Werte fallen weniger ins Gewicht, insbesondere die hohen und sehr hohen Löhne. Entsprechend ist der Medianlohn tiefer als der Durchschnittslohn. Im Jahr 2014 betrug der Durchschnittslohn der Frauen CHF 6’397, ihr Medianlohn CHF 5’881, also gut 8 % weniger. Bei den Männern lag der Medianlohn bei CHF 6’747 13.6 % tiefer als ihr Durchschnittslohn (CHF 7’809). Die Medianlöhne der beiden Geschlechter liegen also näher zusammen als ihre Durchschnittslöhne. Entsprechend wird auch die Lohnlücke kleiner und beträgt für die Gesamtwirtschaft 12.8 %. Was auch aus diesen Zahlen zu lesen ist: Ein beträchtlicher Teil der Lohnlücke beim Durchschnittslohn geht auf hohe und sehr hohe Löhne von Männern zurück. Wenige Grossverdiener also sind Ursache eines ansehnlichen Teiles der Lohnlücke. Männer mit niedrigeren Einkommen ernten allerdings nicht weniger kritische Bemerkungen und Blicke als die besser verdienenden Männer. Wie dem auch sei, die Lohnlücke gemessen am Medianlohn, ist laut Bundesamt für Statistik in der Gesamtwirtschaft für das Jahr 2016 gegenüber dem Jahr 2014 um 0.8 % auf 12 % gesunken.

«Die nicht erklärbare Differenz heisst Lohndiskriminierung.» Ist der unerklärte Teil der Lohndifferenz Lohndiskriminierung oder heisst er nur so? Könnte der unerklärte Teil auch Peter Mustermann heissen? Hat jemand den unerklärten Teil willentlich aus bestimmten Gründen Lohndiskriminierung getauft? Genau so ist es. Die Lohnlücke wird gemäss internationalen Standards mit einem sogenannten multiplen Regressionsmodell berechnet. Das heisst, der Einfluss mehrerer Variablen (z.B. Erfahrung, Verantwortung und andere) auf eine Zielvariable (hier die Lohnlücke bzw. Gender Pay Gap) wird berechnet. Es werden nicht alle möglichen Variablen ins Modell aufgenommen. Die Variablen werden aufgrund verschiedener Kriterien ausgewählt. Am wichtigsten ist sicher, dass für die Variablen ein erheblicher Einfluss auf die Zielgrösse angenommen wird. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle: Sind die benötigten Daten verfügbar? Können sie leicht erhoben werden? Können sie gut quantifiziert oder wenigstens in Klassen (wie z.B. Augenfarben, Ja/Nein/Weiss nicht) erhoben werden? Ist es nötig, bestimmte Variablen einzubeziehen, um die Vergleichbarkeit mit anderen Analysen zu ermöglichen, zum Beispiel anderen Ländern? Sind die Variablen einmal bestimmt, die Daten 7 erhoben und analysiert, ergibt sich der Einfluss der verschiedenen Variablen auf die Zielgrösse, hier die Löhne von Frauen und Männern und die entsprechend resultierende Lohnlücke. Weil nicht alle möglichen Variablen beziehungsweise Einflussgrössen erfasst werden können, erklären die Variablen nur einen Teil des Lohnunterschieds, während ein weiterer Teil eben unerklärt bleibt. Im Jahr 2016 betrug der durch die Variablen erklärte Teil 57.1 % und der unerklärte Teil also 42.9 %. Das heisst aber keineswegs, dass der unerklärte Anteil nicht zu erklären wäre und mit Lohndiskriminierung gleichgesetzt werden könnte. Es heisst schlicht Folgendes: Die im Modell verwendeten Variablen erklären 57.1 % des Lohnunterschieds, die übrigen 42.9 % könnten evtl. durch andere Variablen erklärt werden, d.h. dieser Teil kann (muss aber nicht!) Lohndiskriminierung sein. Leicht vorstellbar ist, dass einflussreiche Variablen nicht im Modell berücksichtigt wurden oder werden konnten.

Der Schlussbericht einer «Studie zu den statistischen Analysen der Eidgenossenschaft betreffend die Lohngleichheit von Mann und Frau» von Prof. Christina Felfe vom Schweizerischen Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen, Frau Judith Trageser und Dr. Rolf Iten vom Forschungs- und Beratungsbüro INFRAS aus dem Jahr 2015 statuiert explizit: «Der unerklärte Anteil wird vielfach als Lohndiskriminierung interpretiert. Dies ist jedoch […] aus ökonomischer Sicht nicht korrekt […].» Auf die Gründe und die Studie selbst, die im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau EBG erstellt wurde, wird später bei der Besprechung des angewendeten statistischen Modells ausführlicher einzugehen sein.

Gleichwertig

Die Bundesverfassung bestimmt wie erwähnt: «Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.» Auf den ersten Blick erscheint das klar. Ein kleines einfaches Gedankenspiel: Notfallsanitäter, ob Mann oder Frau, retten Leben. Ist ihre Arbeit mehr oder weniger Wert als die Arbeit eines Chief Executive Officers (CEO), ob Mann oder Frau? Stellen Sie sich vor, Sie fragen Eltern, deren Kind von Notfallsanitätern vor dem Tod bewahrt wurde. Was würden diese Eltern antworten? Was würde ein CEO, Vater oder Mutter des geretteten Kindes, antworten? Wir wissen es nicht. Wir könnten uns vorstellen, dass ein CEO, ob Vater oder Mutter, einen Moment lang stocken würde, und dann vielleicht eine erklärende Geschichte erzählt, warum seine oder ihre Arbeit mehr Wert sei – zumindest lohnbezogen. Vielleicht auch: Das sind zwei verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Die Antwort ist allerdings müssig, denn in unserer Wirtschaftsform ist sie längst gegeben. Die Arbeit von CEOs, ob Mann oder Frau, ist mehr – oft viel mehr – Wert, wenn sich dieser Wert in Geld misst – dem Lohn. Was also ist gleichwertige Arbeit? Gleich entlohnte Arbeit? Damit wird der Satz aus der Bundesverfassung aber zu: Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleich entlohnte Arbeit. Eine Tautologie, ein Satz, der immer wahr ist, und deshalb nicht sehr hilfreich.

Tatsächlich sind an Demonstrationen zur Lohnlücke oft Transparente mit der Aufschrift «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!» zu sehen. Steht dahinter die Vorstellung, dass zum Beispiel in einer bestimmten Firma für die gleiche Arbeit eine Frau einen 18 % tieferen Lohn als ein Mann bekommt, weil sie eine Frau ist? Die Lohnlücke kann diese Vorstellung auslösen, aber das ist nicht, was die Lohnlücke besagt.

Unterschiede bei finanziellen Aspekten sind ganz offensichtlich weit verbreitet. In der Schweiz verfügten die Zuger im Jahr 2018 mit durchschnittlich CHF 70’500 über die höchste, die Jurassier mit CHF 38’763 über die geringste Kaufkraft. Der Unterschied, oder eben die Lücke beträgt also 45.0 % zu Ungunsten der Jurassier. Sind die Jurassier diskriminiert? Und nicht nur gegenüber den Zugern, sondern gleich gegenüber allen anderen Schweizern? Beim Bruttoinlandprodukt BIP sieht es kantonal ebenfalls sehr unterschiedlich aus. Hier 8 schwingt der Kanton Basel-Stadt mit CHF 173’185 oben aus, der Kanton Uri hat mit CHF 52’827 das tiefste BIP. Das entspricht einem Unterschied, oder eben einer Lücke von 69.5 %. Die Unterschiede werden mit verschiedenen Faktoren erklärt, zum Beispiel Standort (zentral oder peripher), Verkehrserschliessung, Geographie (gebirgig oder flach) und manchem anderen. Durch den Nationalen Finanzausgleich werden die Unterschiede der finanziellen Leistungsfähigkeit der Kantone gemildert. Bingo! Ein Gender Finanzausgleich?

Als kleine Anekdote lässt sich hier eine Nachricht einflechten, die Ende 2017 um die Welt ging und von vielen Nachrichten-Webseiten aufgegriffen wurde: CNN, BBC, Neue Zürcher Zeitung und anderen. Die Schlagzeile auf CNN lautete: «Café charges men 18 % 'gender tax' to highlight pay gap». Man muss kein Rechenkünstler sein, um kurz zu stutzen und den Preis zu berechnen, den eine Frau bzw. ein Mann für den Kaffee letztlich in diesem neu eröffneten australischen Kaffee in Melbourne zahlen: Angenommen ein Kaffee kostet für eine Frau $4 und der Mann bezahlt 18 % mehr, also $4.76, dann kosten zwei Kaffee zusammen $8.76 und der durchschnittliche Preis pro Kaffee ist $4.38. Das könnte als versteckter Aufschlag aufgefasst werden. Honi soit qui mal y pense! Fairerweise steht im Text der NZZ immerhin, dass der Aufschlag für Männer nur eine Woche pro Monat gilt, grundsätzlich freiwillig ist und die 18 % Preisaufschlag an eine Stiftung zur Frauenförderung gehen. Zweifellos war das eine gelungene Werbung für das vegane Kaffee und hat auf das Thema Lohnlücke aufmerksam gemacht.

Entsprechend gemischt waren die Reaktionen im Netz. Die kleine Rechnung zeigt allerdings auch die weitverbreitete Erwartung, dass um die Lohnlücke zu schliessen, Frauen 18 % mehr Lohn erhalten müssten. Das ist ganz offensichtlich unzutreffend. Den gleichen Lohn hätten Frauen und Männer auch, wenn Frauen 9 % mehr bekämen und Männer 9 % weniger. Und die unsichtbare Hand des Marktes könnte auch garstig den Lohn der Männer um 18 % herunterwedeln – auch dann wäre die Lohnlücke geschlossen. Abgesehen vom wahrscheinlich unmöglich zu erbringenden Verwaltungsaufwand für einen solchen Ausgleich könnten sich aber auch andere Fragen ergeben, denn es gibt bei Lohnarbeit auch andere Lücken oder Gaps.

'Gender Death Gap'

Analog zum Gender Pay Gap könnte man zum Beispiel einen 'Gender Death Gap' ermitteln. Bei der Arbeit verunglücken deutlich mehr Männer tödlich als Frauen. Der entsprechende Unterschied liegt regelmässig um die 90 %. Entsprechende Daten sind nicht ganz leicht zu finden, deshalb hier einige Beispiele: Im Jahre 2009 betrug der ‹Gender Death Gap› in Deutschland rund 90 %, für die Jahre 2009–2014 in Grossbritannien 96 %, in den USA 2015 und 2016 je 92 %. Daten für die Schweiz konnten wir nicht finden.

Manchmal wird darauf entgegnet, Frauen verunglückten eben mehr bei unbezahlter Arbeit tödlich, zum Beispiel im Haushalt, was nicht Eingang in die Statistik finde. Auch dazu sind öffentlich zugängliche verlässliche Daten nicht ganz leicht zu finden. Ein Bericht des Bundesamts für Unfallverhütung BfU aus dem Jahr 2015 zu Nichtberufsunfällen gibt an, dass im Jahre 2010 in «Haus und Freizeit» in der relevanten Altersgruppe von 17–64 Jahren 162 Männer tödlich verunglückten und 63 Frauen, ein Unterschied oder eine Lücke von rund 62 % zu Ungunsten der Männer. Tödliche Nichtberufsunfälle im Strassenverkehr und beim Sport, wo ohnehin höhere Risikobereitschaft der Männer erwartet wird, zählen nicht zur Kategorie «Haus und Freizeit». Der arbeitsbedingte 'Gender Death Gap' kann also nicht einfach mit ein paar ad hoc Argumenten abgetan werden. Und selbstredend ist es auch nicht möglich, einen Ausgleich zu schaffen, indem ein paar Leben zwischen den Kategorien Frauen und Männer hin und her geschoben werden.

Der Equal Pay Day soll den Tag anzeigen, ab dem die Frauen mit der Arbeit beginnen müssten, 9 um die Lohnlücke zu den Männern zu schliessen, also den gleichen Lohn zu erhalten wie sie. Bis zu diesem Tag arbeiten Frauen nach ihrem Dafürhalten gratis. Dieses Jahr (2019) fiel er in der Schweiz auf den 22. Februar. Für einen analog bestimmten 'Equal Death Day' hat eine deutsche Webseite für Männeranliegen errechnet, dass Männer erst ab dem 28. November hätten arbeiten dürfen, um das gleiche Risiko wie die Frauen zu haben, bei der Arbeit tödlich zu verunfallen1.

Bereinigt und unbereinigt

Normalerweise nehmen Medien in den Schlagzeilen Bezug auf die sogenannte «unbereinigte Lohnlücke». Das ist der Lohnunterschied, bei dem erklärende Faktoren wie Erfahrung, Verantwortung und andere nicht herausgerechnet sind. Auch nach einer derartigen Bereinigung ist allerdings noch ein Unterschied bzw. eine Lücke vorhanden und nicht unbedeutend. Regelmässig bringt dieser Unterschied auch wirtschaftsnahe Kreise dazu, sich mit eigenen Analysen, Berichten und Stellungnahmen zu melden. In der Regel wird das Vorhandensein einer Lohnlücke bestritten oder zumindest ihr Ausmass. Den wirtschaftsnahen Institutionen geht es dabei kaum um das gesellschaftspolitische Anliegen der Gleichstellung und Gleichberechtigung, sondern eher darum, die Wirtschaft vor weiteren Regulierungen, Berichterstattungen und Eingriffen zu schützen, die zusätzliche Kosten darstellen. Argumentiert wird, dass unter Einbezug weiterer Variablen und Daten die Differenz verschwinde, bemängelt wird also das Modell zur Ermittlung eines evtl. bestehenden Unterschieds. Standpunkt ist gewissermassen: Im Bereich der Löhne ist die Gleichstellung erreicht, schon deshalb weil es aus kapitalistisch-wirtschaftlichen Effizienzüberlegungen nicht anders sein kann. Pointiert ausgedrückt: Wenn die Lohnkosten für Frauen soviel günstiger wären, müssten Männer entlassen und primär Frauen angestellt werden. Das passiert aber offensichtlich nicht.

Eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln aus dem Jahr 2016 analysierte Daten des Sozio-ökonomischen Panels Deutschlands (SOEP), einer seit drei Jahrzehnten durchgeführten jährlichen Befragung von Haushalten durch das nach eigenen Angaben unabhängige und weitgehend öffentlich finanzierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und kam zum Schluss, die nicht erklärte Differenz bei der Lohnlücke betrage in Deutschland 16.6 %, was einem monetären Unterschied von 3.8 % entspreche. Zur Erinnerung: In der Lohnstrukturanalyse des Bundesamts für Statistik für 2016 betrug der nicht erklärte Anteil 42.9 % und entsprach einem monetären Unterschied für die Gesamtwirtschaft von 7.4 % (CHF 522). In diesem Sozio-ökonomischen Panel Deutschlands (SOEP), das die Datengrundlage bildet, sind mehr Variablen erfasst und wurden entsprechend mehr Variablen in die Analyse einbezogen, als z.B. in der Schweiz in die Lohnstrukturanalyse eingehen. In einem Bericht zur Gleichstellung aus dem Jahr 2017 weist der – ebenfalls nach eigenen Angaben – unabhängige Think Tank Avenir Suisse darauf hin, dass vergleichbare Daten für die Schweiz nicht vorhanden seien, die unerklärte Differenz unter Einbezug weiterer Merkmale aber sinken würde. Doch um wie viel würde sich der unerklärte Anteil verringern? Eine vergleichende Studie aufgrund der gleichen Datenlage könnte hier zumindest Hinweise geben.

Aufgrund einer anderen Datenerhebung hat das erwähnte Institut der Deutschen Wirtschaft Köln 2016 eine solche vergleichende Studie für die Jahre 2009–2013 tatsächlich gemacht. Verwendet wurden die Daten von SILC (Statistics on Income and Living Conditions), einer Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen in verschiedenen EU Ländern. Ausser EU-Mitgliedsstaaten erheben auch einige weitere Staaten diese Daten, darunter auch die Schweiz bzw. für die Schweiz das Bundesamt für Statistik. Die Resultate ergaben für Deutschland für das Jahr 2013 eine unbereinigte Lohnlücke von 22.3 % und 18.5 % für die 10 Schweiz. Die entsprechende Lohnlücke basierend auf der Lohnstrukturanalyse für die Jahre 2012 und 2014 waren mit 19.3 % und 18.1 % vergleichbar. Ganz anders sieht es bei der bereinigten Lohnlücke aus, das heisst, wenn der durch die erhobenen Variablen erklärte Teil herausgerechnet ist. In diesem Fall ist der Unterschied für Deutschland im Jahr 2013 6.6 % und für die Schweiz 2.9 %. Mit diesem Wert lag die Schweiz unter den analysierten 28 Ländern hinter den Niederlanden (2.5 %) auf dem zweiten Platz, vor Belgien (3.1 %), Dänemark (4.3 %) und Deutschland.

Erklärungsversuche

Wie kommen diese unterschiedlichen Analyseresultate für die unbereinigte Lohndifferenz zu Stande, d.h. zwischen der Lohnstrukturanalyse des Bundesamtes für Statistik und der international vergleichenden Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln? Daten für einen direkten Vergleich liegen nur für das Jahr 2012 vor, da Lohnstrukturerhebung und -analyse in der Schweiz nur alle zwei Jahre durchgeführt werden. Das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln errechnete für die Schweiz einen unerklärten Lohnunterschied von 4.6 %, das Bundesamt für Statistik 8.3 %. Verwendet wurde allerdings eine leicht unterschiedliche statistische Analysemethode. Zum Verständnis ist deshalb noch ein kleiner Umweg nötig. Für das Jahr 2013 gibt es für Deutschland Resultate nach beiden Methoden. Sie liegen mit 6.0 % und 6.6 % Lohnunterschied nahe beieinander, sodass hier von vergleichbaren Resultaten ausgegangen wird. Die 6 % Lohnunterschied für das Jahr 2013 in Deutschland, die nicht erklärt sind, wurden nach der gleichen Methode ermittelt, wie sie vom Bundesamt für Statistik in der Lohnstrukturanalyse verwendet wird. Es lohnt sich deshalb noch etwas tiefer zu gehen, zu den Variablen selbst. Bei der Analyse für Deutschland im Jahre 2013 erklärte die Variable «Erwerbserfahrung» mit 20.1 % am meisten, gefolgt von «Branche» (15.2 %) und «Tätigkeitsbezogene Merkmale» (11.3 %). Alle anderen Variablen erklärten jeweils weniger als 10 %. Im Modell des Bundesamts für Statistik und der Lohnstrukturanalyse geht die «Erwerbserfahrung» ebenfalls ein, aber als rein hypothetisches Konstrukt, nämlich als Alter minus 15 Jahre, also als «potentielle Erwerbserfahrung». Ein sehr vereinfachtes Gedankenexperiment zeigt auf, welchen Einfluss das auf den unerklärten Teil der Lohnlücke haben kann.

Nehmen Sie an, eine Frau und ein Mann gleichen Alters lernen sich im Studium kennen, heiraten unmittelbar nach dessen Abschluss und haben gemeinsam Kinder. Einer der beiden bleibt bei den Kindern und widmet sich ihrer Erziehung, der andere geht Geld verdienen. Nehmen wir dem Thema zuliebe an, dass es die Frau ist, die zuhause bleibt (das könnte auch umgekehrt sein). Nachdem die Kinder eine gewisse Selbstständigkeit erreicht haben, steigt die Frau in ihren erlernten Beruf ein. Die Vermutung liegt nahe, dass sie nicht den gleichen Lohn erhält wie ihr Mann, der vielleicht bereits 15 Jahre im Beruf gearbeitet hat. In diesem Beispiel gibt es neben dem Geschlecht nur zwei Variablen mit Einfluss auf den Lohn: Ausbildung und Erwerbserfahrung. Die Ausbildung der beiden ist offensichtlich dieselbe. Ins Modell der Lohnstrukturanalyse geht nun die «potentielle Erwerbserfahrung» ein, definiert als Alter minus 15 Jahre. Sie ist ebenfalls für beide gleich. Da die Variablen in unserem Beispiel offensichtlich einen Lohnunterschied nicht erklären – sie sind ja für beide gleich – bleiben 100 % des Unterschieds unerklärt. Konkret: Angenommen die Frau steigt mit CHF 5’000 in den Beruf ein, der Mann verdient nach 15 Jahren im Beruf mittlerweile CHF 9’000, so bleibt der Lohnunterschied von CHF 4’000 vollständig unerklärt und die Lohnlücke beträgt 44 %. Nach immer noch verbreiteter (aber eben trotzdem durch und durch falscher) Lesart würde dieser unerklärte Lohnunterschied vollständig als Lohndiskriminierung aufgrund des Geschlechts behandelt, was – wie das Beispiel hoffentlich zeigt – schlicht falsch ist. Selbstverständlich hat unser Beispiel einen Bezug zur Gleichstellung, und zwar zum Thema «Vereinbarkeit von Familie und Beruf». Aber Lohndiskrimi- 11 nierung aufgrund des Geschlechts ist es eben gerade nicht.

Krieg 1: Individuum vs. Kollektiv

In der Diskussion um die Lohnlücke bzw. den Gender Pay Gap bekommt man insgesamt den Eindruck, dass sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüber stehen. Einerseits eine wirtschaftsnahe Position, die zumindest die Höhe der Lohnlücke für massiv übertrieben hält, andererseits eine feministische, diskriminierungskritische Position, welche die Lohndifferenz als sehr hoch ansieht und der Geschlechterdiskriminierung zurechnet. In einem Trickfilm wären es zwei Figuren mit deutlich vereinfachter Kommunikation: «Ich habe Recht!» – «Nein, ich habe Recht!» – «Nein!» – «Doch!» – «Nein!» – «Doch!»… Irgendwann zieht die eine Figur hinter dem Rücken eine Keule hervor und schlägt sie dem Gegenüber auf den Kopf, womit für den Moment der Konflikt gelöst ist. Im Trickfilm steht dann die niedergeschlagene Figur wieder auf und weiter geht’s mit «Nein!» – «Doch!» – «Nein!» – «Doch!»… Bis auf die Keule, scheint es auch in den Diskussionen um die Lohnlücke genau so bestellt zu sein. Um die Keule zu vermeiden und die eigene Position zu halten, kann man einander aus dem Weg gehen oder bei einer unvermeidlichen Begegnung aneinander vorbeireden. In diesem Fall reicht es sogar, wenn eine Person an der anderen vorbeiredet, oder eine Person sachkundig ist und die andere nicht.

So geschehen anlässlich eines moderierten Gesprächs auf SRF 1 am 1. Mai 2018 in der Radiosendung «Tagesgespräch». Das Motto für den Tag der Arbeit des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes lautete «Lohngleichheit. Punkt. Schluss». Es begegneten sich Regine Sauter, Nationalrätin für die Freisinnig Demokratische Partei FDP und Direktorin der Zürcher Handelskammer und Paul Rechsteiner, Ständerat für die Sozialdemokratische Partei SP und damals noch Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Während Frau Sauter von erklärten und unerklärten Anteilen der Lohnlücke, von anderen Aspekten und ihrer Erfahrung aus der eigenen aktuellen Tätigkeit sprach, brachte Herr Rechsteiner als Beispiel einen eklatanten Fall von Lohndiskriminierung aus den frühen 1980er Jahren als Anwalt, kurz nachdem 1981 der Gleichstellungsartikel in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. Umgehend wies Frau Sauter darauf hin, dass sich seither schon etwas geändert habe. Im weiteren Gespräch erläuterten beide ihre Ansichten und Positionen in Bezug auf die Lohnlücke. Herr Rechsteiner wies auf 20 % Lohnunterschied hin, Frau Sauter auf den unerklärten Lohnunterschied von 7.4 %. Zwar sprachen beide über das gleiche Thema «Lohnlücke» aber mehrheitlich aneinander vorbei. Beide waren sich aber einig, dass der Lohnunterschied, ob erklärt oder nicht, angegangen werden muss. Herr Rechsteiner favorisierte einen gesetzlichen Weg, Frau Sauter plädierte für einen betriebsinternen, gewissermassen wirtschaftsliberalen Weg. Am Schluss der Sendung war man als Hörer jedenfalls nicht wirklich schlauer, und auf die eigene Position hatte das Gespräch wohl kaum Einfluss.

Politik

Klar ist, dass vieles Einfluss darauf hat, was als Lohnlücke bzw. Gender Pay Gap bezeichnet wird: Die erhobenen Daten bzw. Variablen, das Modell und die Analyse. Und eine Lohnlücke von rund 20 % ist wirklich beeindruckend gross und verblüfft wirtschaftsnahe als auch andere Kreise. Wir selbst kennen kein Beispiel, wo eine Frau für die gleiche Arbeit 20 % weniger als ein Mann verdient, weil sie eine Frau ist. Wir kennen auch niemanden, der solche Beispiele kennt. Gut möglich ist, dass gar Firmenbesitzer davon überrascht sind und vielleicht ihre eigene Firma genauer angeschaut haben. Vielleicht war auch Ruedi Noser, gegenwärtig Ständerat des Kantons Zürich für die FDP und Alleininhaber der Noser Gruppe mit knapp 500 Mitarbeitern, sehr überrascht. Noch als Nationalrat brachte Herr Noser am 2.6.2014 das Postulat 14.3388 «Erhebung zur Lohngleichheit: Verbesserung der Aussagekraft» ein. Darin wird der Bundesrat gebeten, die Analyse zur Lohndiskriminierung zu überprüfen und Bericht zu erstatten. In seiner Stellungnahme vom 12 20.8.2014 schreibt der Bundesrat, «dass die angewandte Analysemethode und die in der Erhebung berücksichtigten Variablen dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen und die Qualität und Objektivität der statistischen Messung der Lohndiskriminierung gewährleisten. Der Bundesrat will jedoch die Transparenz und den Konsens über die angewandte Methode sicherstellen. In diesem Sinne ist er bereit, dem Anliegen des Postulates nachzukommen.» Der Bundesrat beantragt die Annahme des Postulats.

Darauf gab das Gleichstellungsbüro die bereits zitierte «Studie zu den statistischen Analysen der Eidgenossenschaft betreffend die Lohngleichheit von Frau und Mann» in Auftrag. Der mit 144 Seiten recht detaillierte, ausführliche und beeindruckend sachkundige Schlussbericht von Frau Felfe, Universität St. Gallen, Frau Trageser und Herrn Iten, beide vom Forschungs- und Beratungsbüro INFRAS, war am 28. September 2015 fertig. Als wichtigste Resultate und Empfehlungen der Studie, festgehalten im Executive Summary, sind zusammengefasst zu nennen:

(1) Die bislang verwendete statistische Methode entspricht dem Stand der Wissenschaft. Die Ergebnisse könnten aber stark von sehr hohen respektive sehr tiefen Löhnen beeinflusst sein. Weiter kontrolliert die Methode nicht auf hinreichend gleiche Verteilung von Frauen und Männern über die einzelnen Ausprägungen der Erklärungsfaktoren, was ebenfalls in bestimmten Fallkonstellationen zu verzerrten Ergebnissen führen kann. Zusätzliche Analysemethoden könnten dem Rechnung tragen. Eine Methode trägt der Ungleichverteilung der Löhne Rechnung, indem Sie sich am Median orientiert, die andere Methode (Doubly Robust Regression) würde eine hinreichend gleiche Verteilung von Frauen und Männern über die einzelnen Ausprägungen der Erklärungsfaktoren besser gewährleisten. Die Nationale Statistik solle also sowohl am Mittelwert als auch am Median dargestellt werden (wie bisher) und die Doubly Robust Regression (neu) zusätzlich verwenden.

(2) Die verwendeten Faktoren (Variablen) zur Erklärung von Lohnunterschieden entsprechen dem Stand der Forschung und sollen beibehalten werden.

(3) Die drei im Postulat Noser genannten zusätzlichen Faktoren Weiterbildung, Sprachkenntnisse und Führungserfahrung sollten nicht aufgenommen werden, weil der zusätzliche Erklärungsgehalt als tief einzuschätzen ist und die zuverlässige Erhebung der Daten nicht gewährleistet ist. Für die Faktoren effektive Berufserfahrung (statt potentielle Berufserfahrung) und physische/psychische Belastungen soll geprüft werden, ob sie sinnvoll erhoben werden können.

(4) Es soll je ein Analysemodell mit und ohne Faktoren mit Diskriminierungspotential entwickelt werden. (Das wird in diesem Artikel nicht besprochen weil es viel zu weit führen würde, ist aber mit Sicherheit bedenkenswert.)

Was steht nun im Bericht, den der Bundesrat in Erfüllung des Postulats 14.3388 Noser verfasst hat, über diese Empfehlungen? Der Bundesrat ist bereit, dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) einen Auftrag zu geben, (1) die alternativen statistischen Methoden vertieft zu prüfen, (2) zu prüfen, ob zusätzliche Daten für Faktoren aus bestehenden administrativen Registern entnommen werden können und, (3) vertieft zu prüfen, ob im Rahmen der nationalen Statistik je ein Analysemodell mit und ohne Faktoren mit Diskriminierungspotential entwickelt werden soll. Aber, und wesentlich: Die Prüfung der Fragen erfolge im Rahmen der bestehenden Ressourcen. Ganz allgemein gelte es, den Aufwand für Unternehmen und das Bundesamt für Statistik zu beachten und dass die Erhebung zusätzlicher Informationen direkt bei den Unternehmen wegen des zusätzlichen administrativen Aufwandes für Unternehmen ebenso wie für das Bundesamt für Statistik undenkbar sei.

Soweit so gut – oder schlecht. Vorläufig bleibt alles beim Alten und damit im Wesentlichen 13 auch die Diskussionen und Schlagzeilen zur Lohnlücke bzw. der Gender Pay Gap. Jedenfalls ist noch nichts anderes erkennbar. Allerdings ist der definitive und ausführliche Bericht zur Analyse der Löhne von Frauen und Männern anhand der Lohnstrukturerhebung 2016 noch nicht öffentlich verfügbar. Möglicherweise sind in diesem Bericht bereits Empfehlungen berücksichtigt, die keine zusätzlichen Datenerhebungen brauchen, zum Beispiel die zusätzliche Analysemethode Doubly Robust Regression. Wir wissen es nicht.

Berufsbranchen

Bisher haben wir noch nicht angesprochen, wie gut die im Modell einbezogenen Variablen die Lohnunterschiede in den einzelnen Branchen erklären, klar aber ist, dass die Branche in Zusammenhang mit den Unterschieden steht, was ebenfalls regelmässig in den Pressemitteilungen auftaucht. Angesprochen wird dies im Punkt 1 der Resultate und Empfehlungen im vorstehend erwähnten Bericht des Bundesrates, in gewisser Weise auch in Punkt 4. Eine Annäherung an das Thema ist aufgrund der bisher erschienen Berichte zu den Lohnanalysen möglich. Tendenziell gibt es einen negativen Zusammenhang zwischen dem Männeranteil in einer Branche und dem erklärten Anteil der Lohnlücke. Konkret: Je höher der Anteil von Männern in einer Branche, umso kleiner ist der erklärte Anteil der Lohndifferenz.

Der höchste erklärte Anteil mit 73 % findet sich in der Kategorie «Erbringung von sonstigen Dienstleistungen» mit einem Männeranteil von 32 %. In diese Kategorie fallen «Interessenvertretungen sowie kirchliche und sonstige Vereinigungen (ohne Sozialwesen und Sport), Reparatur von Datenverarbeitungsgeräten und Gebrauchsgütern und andere Dienstleistungen». Auf der anderen Seite wird in der Kategorie «Bau/Baugewerbe» mit einem Männeranteil von 92 % durch das Modell gar nichts mehr erklärt. Das Bild ist uneinheitlich. Es handelt sich um eine Korrelation und keine Kausalbeziehung. Eine Aussage wie «Je höher der Anteil Männer, umso kleiner der erklärte Anteil der Lohnlücke» ist falsch und unzulässig. Die Korrelation ist aber deutlich und statistisch signifikant, also nicht zufällig. Dass die Variablen im bestehenden Modell Frauen und Männer gleich gut erfassen, kann also nicht ohne Weiteres angenommen werden. Dem müsste die Doubly Robust Regression-Methode bis zu einem gewissen Grad Rechnung tragen können.

Krieg 2: Freiheit vs. Regulierung

Es stehen sich also zwei Lager gegenüber, die wirtschaftliche Position mit der Ansicht (und gewissen Belegen), die Lohnlücke sei – wenn es sie überhaupt gebe – sehr viel kleiner als behauptet. Aufgrund des wirtschaftlichen Effizienz-Credos, nach welchem es Lohnunterschiede nach Geschlecht eigentlich nicht geben kann, weil aus Gründen wirtschaftlicher Effizienz primär kostengünstigere Personen angestellt würden, sind aus dieser Perspektive regulierende und überprüfende Massnahmen überflüssig und wirtschaftsfeindlich. So steht im 2016er-Bericht des Instituts der Deutschen Wirtschaft, dass der unerklärte Anteil der Lohndifferenz von 3.8 % für das Jahr 2013 durch den Einbezug von persönlichen Präferenzen oder individueller Risikoneigung erklärbar sei und keine statistisch signifikanten Unterschiede übrig lasse. Auch Avenir Suisse hatte in ihrem Bericht ein Kapitel «Karrierehürden im Verhalten der Frauen selbst». In Bezug auf Karriere und Kaderpositionen heisst es da: «Gänzlich am Ziel ist die Frau also noch nicht. Doch Quoten sind nicht die Lösung: An der Spitze dieser Rangliste (Frauen in Kaderpositionen, Anm. des Verfassers) finden sich Länder wie die USA, die gänzlich ohne Quoten und sogar ohne Mutterschaftsversicherungen auskommen.» Das ruft unweigerlich die Gegner auf den Plan, etwa den Präsidenten des bereits genannten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Wirtschaftsprofessor und auf Spiegel Online (20.6.2016) unter dem Titel «Die Scheinargumente der Machowissenschaftler». Der allgemeine Tenor liberaler Perspektive scheint zu sein: Das Problem der Lohnlücke ist gelöst oder sie ist objektiv statistisch erklärt. Soweit es eine Lohnlücke geben sollte, basiert sie auf freiwil- 14 ligen Entscheidungen der Frauen. Krass und überspitzt ausgedrückt: «Frauen! Werdet wie Männer, dann gibt es auch keine Lohnlücke und Karrierehürden mehr!» (Ginge natürlich auch umgekehrt: «Männer! Werdet wie Frauen …»).

Die Gegenposition der Regulierungsfreunde sieht das natürlich genau umgekehrt: Unter der Annahme, dass die Lohnlücke in der Schweiz immer noch sehr gross sei und zu langsam kleiner werde, hat Bundesrätin Sommaruga (SP) als Justizministerin im Jahr 2018 staatliche Regulierungen vorgeschlagen. Firmen mit über 100 Angestellten wären danach zu einer Berichterstattung alle 4 Jahre verpflichtet. Gemäss Neuer Zürcher Zeitung vom 22.2.2018 entspräche das knapp 1 % aller Unternehmen und 45 % aller Angestellten. Der Unterschied würde mittels eines abgewandelten sogenannten Standard-Analysemodells des Bundes ermittelt, das bei Beschaffungen verwendet wird. Zu diesem Zweck würde der Bund den Unternehmen das Selbsttest-Instrument Logib gratis zur Verfügung stellen: Excel-basiert und einfach zu bedienen. Als Schwellenwert für die Erfüllung der Anforderungen gälte eine Differenz von 5 %. Liegt der Wert darunter, wird das Unternehmen von weiteren Berichterstattungen befreit, liegt er darüber, wird es wiederum Bericht erstatten müssen. Sanktionen sind keine vorgesehen, sieht man davon ab, dass bei Nichterfüllung der Aufwand wiederholt werden muss. Der wird auf 1–3 Tage geschätzt. In dieser Zeit ist natürlich die Stelle nicht produktiv für das Unternehmen, das heisst es kämen noch Opportunitätskosten dazu. Herr Rechsteiner fand das in der Radiosendung «butterweich», die Wirtschaft findet es unnötig und überflüssig. Angemerkt sei immerhin, dass die unerklärten Lohnunterschiede, um die es eben gerade geht, in Kleinstunternehmen, also mit weniger als 20 Angestellten, am grössten sind. Sie aber sollen ja nicht erfasst werden.

Ein Versuch, empirisch und nicht politisch zu argumentieren

Allenthalben Unklarheiten: Bezüglich des Modells, der Variablen und Analysemethoden – blosses treten an Ort. Das ging die Korn Ferry Hay Group, eine global tätige Beratungs- und Personalvermittlungsfirma, ganz anders an. Ihr Bericht mit dem Titel «The real gap: fixing the gender pay divide» wurde 2016 im Internet publiziert. Für die Analyse hat die Firma ihre eigene Datenbank benutzt. Da es sich um eine privatwirtschaftliche Unternehmung handelt, sind weder Daten noch die Analyse so transparent wie es im Allgemeinen wünschenswert wäre. Aber bei den Daten handelt es sich eben um das eigentliche Betriebskapital der Firma. Die Entlöhnungsdatenbank der Firma soll Daten für mehr als 20 Millionen Angestellte in über 110 Ländern und 25’000 Organisationen enthalten und die Resultate sind einigermassen eindrücklich.

Der Bericht verglich für Frauen und Männer like with like, das heisst gleiche Stelle, gleiche Funktion, gleiches Unternehmen. Für die Analysen wurden Daten von über 8 Millionen Angestellten in 33 Ländern verwendet. Ohne Berücksichtigung von Stelle, Funktion und Firma ergab sich für alle Länder zusammen ein Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern von 18 %. Sowohl Vergleich als auch Resultat entsprechen dem, was in einer Lohnstrukturanalyse als sog. «unbereinigte» Lohnlücke resultiert. Weil diese Zahl üblicherweise die Lohnlücke in die Schlagzeilen bringt, wird sie im Bericht auch als 'Headline' pay gap bezeichnet. Wenn nun das Stellenniveau in der Analyse kontrolliert wird – das heisst gleiche Stellen werden verglichen – sinkt der Unterschied auf 7 %, wenn Stelle und Firma kontrolliert (d.h. gleichgehalten) werden, auf 2–3 %, und schliesslich bei gleicher Stelle, Firma und Funktion auf unter 2 %. Dies für alle 33 Länder zusammen.

Alle einbezogenen Länder sind auch separat ausgewiesen. Für die Schweiz standen Daten von gerundet 60’000 Angestellten zur Verfügung. Die Lohnlücke betrug ohne Berücksichtigung von Stelle, Unternehmen und Funktion 21.7 %, unter Berücksichtigung der Stelle 3.0 %, bei Berücksichtigung von Stelle und Unter- 15 nehmung 2.0 %, und bei Berücksichtigung von Stelle, Unternehmung und Funktion 2.2 %. Sicher: 2.2 % sind 2.2 %, aber das ist fast zehnmal weniger als die empörenden 21.7 %. Der Vollständigkeit halber seien hier auch noch die Zahlen für das Musterland der Geschlechtergleichstellung Schweden angegeben: 14.2 % ohne Berücksichtigung von Stelle, Unternehmen und Funktion, 2.8 % bei gleicher Stelle, 1.5 % bei gleicher Stelle und Unternehmung und 0.7 % bei gleicher Stelle, Unternehmung und Funktion. Der Bericht stellt denn auch lakonisch fest: A gender pay gap exists – just not in the way conventional wisdom holds.

Was nun?

Vielleicht lohnt sich ein Blick auf das angepasste Standard-Analysemodell des Bundes und die erwähnte Software Logib, die Basis der vorgeschlagenen obligatorischen Berichterstattung bilden soll: Modell, Variablen, Methode? Man ahnt es, im Wesentlichen wie bisher bei der Lohnstrukturanalyse, allerdings – wie schön – mit deutlich weniger Variablen. Wiederum sind die potentiellen Erwerbsjahre erfasst (dieses Mal als Alter abzüglich Anzahl Ausbildungsjahre abzüglich sechs Jahre Primarschule) und es wird mit der multiplen Regression gearbeitet. Wie wunderbar, dass man sich seine Zahlen einfach zurechtzimmern kann über normative Konstrukte wie potentieller Erwerb. Ob dies wirklich die Messung tatsächlicher Unterschiede ermöglicht? Oder vielleicht eben doch nur potentieller Unterschiede? Momentan ist noch keine Regulierung beschlossen, SP-Bundesrätin Sommaruga hat das Departement gewechselt und neu leitet die FDP mit Karin Keller-Sutter als Vorsteherin das Departement. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Oder – nach den eben dargestellten Erfahrungen – auch nicht. Am besten vielleicht potentiell gespannt.

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Angaben für das Jahr 2016.

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Wissenslücke «Lohnlücke »
von Urs Thalmann und Marcel Alexander Niggli
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