Der monströse Sexualtäter
Giulietta Mottini
45 Wörter verraten uns. Mehr als wir denken mögen. Wörter verraten unsere Ängste, unsere Tabus, unsere Werte.
Mir ist letztens aufgefallen, wie oft der Begriff Monster für Straftäter in den Medien verwendet wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, dass diese Eigenschaft besonders den Sexualtätern, in erster Linie wegen Sexualdelikten an Kindern verurteilten Straftätern, zugeschrieben wird. Letztere werden heutzutage von der Gesellschaft als besonders gefährlich wahrgenommen, wie dies an verschiedenen angenommenen Volksinitiativen festgestellt werden kann. Beispielsweise hatte die sog. Verwahrungsinitiative von 2004 zum Ziel, die als nicht therapierbar erachteten Sexual- und Gewalttäter lebenslang und ohne Überprüfungen und Vollzugslockerungen zu verwahren. 2014 wurde dann die sog. Pädophilen-Initiative angenommen, die ein breites Tätigkeitsverbot für Personen einführte, welche verurteilt werden, weil sie die sexuelle Unversehrtheit eines Kindes beeinträchtigt haben. Im Rahmen von Strafverfahren wird ausserdem die Frage der Gefährlichkeitsprognose – welche für die Anordnung einer therapeutischen Maßnahme oder einer Verwahrung massgebend ist – heute, anders als vor zwanzig Jahren, bei einem Sexualtäter in den meisten Fällen untersucht (Gorderbauer, Behandlungsnotwendigkeit und Behandlungsvoraussetzungen bei Sexualstraftätern, in: Rudolf Egg (Hrsg.), Fachtagung der Kriminologischen Zentralstelle e.V. 2000, 111 ff., 111).
Dass bestimmte Menschen als besonders gefährlich angesehen und dazu noch als Monster bezeichnet werden, sollte unsere Aufmerksamkeit erregen. Menschliche Monster gelten nämlich nicht mehr als Menschen, sie stellen vielmehr das Zusammentreffen des Unnatürlichen und des Unerlaubten dar (Foucault, Les anormaux – Cour au Collège de France 1974–1975, Paris 1999, 51 und 76).
Heutzutage bezieht sich die schwerwiegendste Monsterfigur spezifisch auf den Pädophilen (Renneville, La criminologie face au monstre, entre délit du corps et invisible différence, in: Anna Caiozzo et al. (Hrsg.), Monstre et imaginaire social – Approches historiques, Paris 2008, 321 ff. [nachstehend: La criminologie face au monstre], 328 ff; Salas, La volonté de punir – Essai sur le populisme pénal, Paris 2005, 186 f.; Campion-Vincent, Elites maléfiques et « complot pédophile » : paniques morales autour des enfants, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Band 102 (2006) Heft 1, 49 ff., 63; Giudicellli-Delage, Conclusion. Un monde (simplement) habitable…, in : Geneviève Giudicelli-Delage et al. (Hrsg.), La dangerosité saisie par le droit pénal, Paris 2011, 281 ff., 292). Als Pädophiler wird üblicherweise ein Mensch, regelmäßig ein Mann, bezeichnet, welcher aufgrund seiner Sexualneigung Kinder missbraucht. Es soll hier aber betont werden, dass der Ausdruck Pädophiler eigentlich nur auf eine Sexualneigung verweist, die Pädophilie, welche von der Psychiatrie als eine Sexualdevianz bzw. eine psychische Störung gesehen 46 wird. Der Begriff Pädophiler ist somit ein psychiatrisches Konzept und kein juristisches. Eine solche Diagnose impliziert keine vergangene oder zukünftige strafbare Handlung an Kindern (Fromberger, Pädophilie – Ätiologie, Diagnostik und Therapie, in: Der Nervenarzt, Band 84 (2013), 1123 ff., 1124 f.). Die Pädophilie ist also nicht mit der strafbaren sexuellen Handlung mit Kindern nach Art. 187 StGB gleichzusetzen, welche andersrum keine psychische Störung voraussetzt und auch nicht nur von diagnostizierten Pädophilen begangen wird. Die zwei Aspekte – Kriminalität und psychische Störung – bedingen sich demnach nicht, obwohl sie von der Gesellschaft regelmäßig nicht getrennt werden. Anders gesagt ist die verwendete Bezeichnung des Pädophilen mit der Realität, welche zu beschreiben versucht wird, nicht gleichzusetzen. Sie ist vielmehr Ausdruck eines Mythos.
Interessanterweise besteht die Monsterfigur des Pädophilen nur im Zusammentreffen von diesen beiden Aspekten: die psychische Störung und die Kriminalität. Dies kann möglicherweise damit erklärt werden, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert die immer bedeutendere Frage der psychiatrischen Störung von Kriminellen auftauchte, die Tendenz sich entwickelte, Kriminalität mit Monstrosität in Verbindung zu setzen (Foucault, a.a.O., 76). In der Psychiatrie entwickelte sich nämlich zu dieser Zeit ein wachsendes Interesse an forensisch-psychiatrischen Fragestellungen. Neue Deutungsmuster kriminellen Verhaltens – wie «Charakteranomalien» oder «Charakterdefekte» der Delinquenten – vermochten plausible Erklärungen für das problematisierte Phänomen der Rückfälligkeit anzubieten. Der berühmte Wegbereiter der Kriminologie, Lombroso, bezeichnete beispielweise geborene Kriminelle als Monster (Renneville, La criminologie face au monstre, 321). Der psychisch kranke Straftäter bildete also damals die typische Monsterfigur (Renneville, Le délit du corps en criminologie : du «type criminel» au «type» criminel, in: Brägger Benjamin F. et al. (Hrsg.), Kriminologische – Wissenschaftliche und praktische Entwicklungen : gestern, heute, morgen, Chur/Zürich 2004, SAK Band 22, 71 ff. [nachstehend: Le délit du corps], 83). Die aktuelle Monsterfigur hat also die zwei Hauptcharakteristika der Monsterfigur des 19. Jahrhunderts beibehalten: die psychische Störung und die Kriminalität.
Weil die Monsterfigur Werte und Ängste der jeweiligen Epoche spiegelt, wandelt sich selbstverständlich in mehr oder weniger bedeutsamer Weise ihr Erscheinungsbild (Demartini, Le crime, le monstre et l’imaginaire social – L’affaire Lacenaire, in: Anna Caiozzo et al. (Hrsg.), Monstre et imaginaire social – Approches historiques, Paris 2008, 307 ff., 310 f.). Der Pädophile beängstigt und ekelt heute vor allem, weil er in die sexuelle Entwicklung von Kindern eingreift, während die Gesellschaft heute besonders Wert auf das Kindeswohl legt (Neuilly/Zgoba, La panique pédophile aux Etats-Unis et en France, in: Champ pénal/Penal field 2008, <http://journals.openedition.org/champpenal/340>, Stand 14. September 2005, besucht am 6. Februar 2018, N 28). Zudem erscheint er monströs, weil der Pädophile oft nichts anderes als eine sozial gut integrierte Person ist und die Gesellschaft von der Feststellung erschreckt, dass man ihm seine Monstrosität nicht ansieht, weil er erstaunlicherweise (!) keine anatomische Eigenartigkeit aufweist. Er beängstigt also auch, weil das Gefühl herrscht, er könnte überall und zu jedem Zeitpunkt auftauchen (Salas, a.a.O., 186.). Weil er nicht im Voraus erkannt werden kann und wir dieses Risiko nicht ertragen können, erscheint es uns legitim alle möglichen Mittel einzusetzen – wie unbefristete therapeutische Maßnahmen in Hochsicherheitsgefängnisse, unüberprüfbare lebenslange Verwahrungen oder lebenslange Berufsverbote mit Minderjährigen –, um das Auftauchen der Monstrosität zu vermeiden. Die Einführung solcher Maßnahmen könnte auf verschiedene Weise erklärt werden. Sie kann wahrscheinlich auch auf die Sicherheitspolitik zurückgeführt werden und der daraus folgenden Null-Risiko Haltung. Die von der Vernunft unabhängige Überzeugungskraft von Mythen, was Monster sind, sollte aber nicht unterschätzt werden. 47 Diese ermöglichen und legitimieren das Ergreifen von unreflektierten und disproportionalen Maßnahmen.
Einen Menschen als Monster zu bezeichnen, erlaubt ablehnende Reaktionen und minderwertige Behandlung. Außerdem kann auf jegliche rationale Erklärung verzichtet werden, weil ihm das Menschsein abgesprochen wird und er als krank, gefährlich und besonders schädlich gilt. Obwohl die Idee eines typischen Kriminellen wissenschaftlich immer wieder widerlegt wurde, ist sie im kollektiven Bewusstsein noch tief verwurzelt (siehe auch Renneville, Le délit du corps, 84). Monster stellen die Anderen dar, mit denen man sich nicht identifizieren kann und die zur gemeinsamen Feindfigur werden, vor der die Guten geschützt werden sollen (siehe auch Asma, Monsters on the Brain: An evolutionary epistemology of Horror, in: Social research 2014, Band 81, Heft 4, 941 ff., 956). Die Verwendung des Worts «Monster» auf so bezeichnete Pädophile ist wie die Spitze eines Eisbergs: Von Weitem eher unbedeutend, aber wenn man auf einen trifft, hat es schwerwiegende Konsequenzen.