Gedanken zur Gutachtenspraxis im Strafverfahren

Markus J. MeierAdrian BiglerGedanken zur Gutachtenspraxis im StrafverfahrenMContraLegem201916063

Gedanken zur Gutachtenspraxis im Strafverfahren

Markus J. Meier / Adrian Bigler

60 Die Begutachtung beschuldigter Personen oder möglicherweise inkriminierter Sachverhalte im Strafprozess ist regelmässig Anstoss zu Diskussionen und mitunter auch zu Kritik. Vorliegend sollen Fragen, welche bislang unter Kolleginnen und Kollegen rege diskutiert wurden, der interessierten Leserschaft zugänglich gemacht und mit einigen Gedanken der Autoren versehen werden. Die Autoren beschränken sich dabei auf drei hauptsächliche Fragen zur (vermeintlichen) Unabhängigkeit von Sachverständigen.

Frage 1: Warum haben nicht alle Gutachten den gleichen Stellenwert? Gemäss Art. 182 StPO werden Gutachten «zur Feststellung oder Beurteilung eines Sachverhalts» in Auftrag gegeben, wenn die auftraggebende Behörde nicht über die dazu notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt. Mit anderen Worten hilft die (nichtjuristische) Wissenschaft dem Juristen bei der Erstellung des Sachverhalts, sobald der Jurist «am Ende seines Lateins» ist. Man könnte den Gutachter somit auch als beauftragten Gehilfen des jeweiligen Juristen bezeichnen. Bei der Erstellung eines Gutachtens hält sich der Sachverständige – dies ist zumindest anzunehmen – an die Regeln und die aktuellsten Erkenntnisse der von ihm angewandten Wissenschaft. Doch selbst die nichtjuristische Wissenschaft dürfte nicht aller Fehler erhaben sein. Auch besteht stets Raum für abweichende Ergebnisse. Gutachterliche Analysen können etwa zu abweichenden Ergebnissen gelangen, je nachdem etwa, welche Methode angewandt wird. Dies wiederum hätte nach den obigen Ausführungen einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Erstellung des entscheidrelevanten Sachverhalts.

Die beschuldigte Person muss an der Erstellung des Sachverhalts bekanntlich nicht mitwirken – sie kann aber. Dies könnte z.B. in der Form eines selbst in Auftrag gegebenen Gutachtens geschehen. Doch gerade in dieser Aussage liegt mit Bezug auf vorliegende Fragestellung «des Pudels Kern begraben». Denn: Gutachten, welche von der beschuldigten Person in Auftrag gegeben wurden, werden in der gerichtlichen Würdigung regelmässig als «Parteiaussagen» abgetan. Sie erfahren damit in der Beweiswürdigung geringere Beachtung als etwa «staatsanwaltschaftliche» Gutachten. Gedanke dahinter dürfte wohl sein, dass der «Parteigutachter» sich (zu sehr) den Interessen seines Auftraggebers verschrieben haben könnte, um noch neutral begutachten zu können (vgl. dazu aber auch die Fragen 2 und 3). Dies aber täte der Wissenschaft, welche auch hinter Parteigutachten steckt, Unrecht. Bei Lichte betrachtet hiesse dies nämlich, dass ein behördlich eingesetzter Wissenschafter einzig nach den Regeln der Kunst, ein «Parteigutachter», aber auch einmal entgegen diesen Regeln und einzig im Interesse der auftraggebenden Partei begutachtet. Hält man sich die nachfolgenden Ausführungen vor Augen, könnte dieser Vorwurf aber durchwegs auch mit umgekehrten Vorzeichen erhoben werden. Zugegebenermassen hat das Parteigutachten 61 einen strukturellen Nachteil, weil es nicht parteiöffentlich erstellt wird. Mit anderen Worten kann die auftraggebende Partei somit wählen, ob sie das Parteigutachten zum Verfahrensgegenstand macht oder nicht. Abgesehen davon müsste unseres Erachtens aber ein wissenschaftlicher Gutachter stets der (wissenschaftlich bedingten) Neutralität und Sachlichkeit verpflichtet sein und nicht irgendwelchen Partikularinteressen. Die Wissenschaftlichkeit müsste mithin aus dem Gutachten hervorgehen. Bestünden zwei voneinander abweichende Gutachten zum selben Gegenstand, so wäre es Aufgabe des urteilenden Gerichts, deren Ergebnisse im Rahmen der Beweiswürdigung zu werten. Wird eines der Gutachten aber von Vornherein als weniger «werthaltig» abgetan, umgeht das Gericht seine eigentliche Aufgabe, unabhängig alle Beweise frei zu würdigen.

Frage 2: Weshalb ist die einseitige Einsetzung von Gutachtern akzeptiert? Weil es so im Gesetz steht, könnte man antworten. Die StPO sieht in Art. 182 schliesslich vor, dass «Staatsanwaltschaft und Gerichte» Gutachter einsetzen. Eine derart verkürzte Antwort täte aber der (Rechts-)Wissenschaft wiederum Unrecht.

Während die Einsetzung eines Gutachters durch ein unabhängiges Gericht zwar noch unproblematisch scheint, verhält es sich bei der Einsetzung durch die verfahrensführende Staatsanwaltschaft wohl etwas komplizierter. Auch diese ist während des Vorverfahrens zwar – zumindest theoretisch – zur Objektivität verpflichtet. Sehenden Auges wird in der Praxis allerdings akzeptiert, dass die proklamierte Neutralität im Vorverfahren eine äusserst schwierig umzusetzende und bei Lichte betrachtet wohl nur eine vermeintliche ist. Bei der Vergabe von Gutachtensaufträgen durch die Staatsanwaltschaft könnte mithin ebenfalls von einer parteiischen Vergabe ausgegangen werden. Diese Annahme könnte zusätzlich damit untermauert werden, dass die Staatsanwaltschaft selbst entscheidet, welche Verfahrensakten dem Gutachter zur Verfügung gestellt werden. Damit könnte sie das Gutachten wesentlich beeinflussen. Wohl nicht zu Unrecht plädieren Bernard, Studer & Gfeller deshalb in der NZZ vom 15.11.2017 «für eine faire Gutachtensvergabe».

Problematisch ist die parteiische Vergabe von möglicherweise verfahrensentscheidenden Gutachten nämlich insbesondere dann, wenn z.B. psychiatrische Gutachten in Auftrag gegeben werden. Bei der Psychiatrie handelte es sich bekanntlich nicht um eine exakte Wissenschaft. Die Wahl des Gutachters und die von diesem allenfalls bevorzugte Methode können mithin das Ergebnis einer Begutachtung und damit den zu beurteilenden Sachverhalt prägend beeinflussen. Dem könnte selbstredend entgegengehalten werden, dass die betroffenen Parteien stets Gelegenheit haben, zum von der Staatsanwaltschaft beauftragten Gutachter und zum Gutachtensauftrag selbst Stellung zu nehmen. Beachtet werden muss, dass es sich dabei aber eben um nichts anderes als eine Möglichkeit zur «Stellungnahme» handelt. Diese kann jeweils höchstens in der Ablehnung eines Gutachters, nicht aber in der Wahl eines anderen – oder eigenen – Gutachters resultieren. Ein entsprechendes Recht auf eigene Wahl des Gutachters besteht nicht. Das Recht zur Stellungnahme schafft somit nur einen vermeintlichen Ausgleich des Ungleichgewichts. Eine mögliche Lösung wäre auch hier eine neutrale Vergabestelle für Gutachteraufträge, wie sie etwa von den obgenannten Autoren proklamiert wird; eine andere Lösung die Akzeptanz der Gleichwertigkeit von durch die betroffene Person in Auftrag gegebenen Gutachten (vgl. dazu aber oben Frage 1).

Weniger problematisch – so scheint es zumindest auf den ersten Blick – könnte die Vergabe von Gutachten im Bereich der exakten Wissenschaften sein. Das Wort «exakt» möchte vermeintlich gerade darstellen, dass ein Gutachten im Rahmen der Analyse ein und derselben Ausgangslage stets zum selben Resultat gelangen sollte. Auch in der StPO scheint dieser Glaube an die Exaktheit grund- 62 sätzlich verankert zu sein. So kann gemäss Art. 184 Abs. 3 StPO von der Einholung einer Stellungnahme der Parteien abgesehen werden, wenn «lediglich» die Bestimmung der Blutalkoholkonzentration oder des Reinheitsgrads von Stoffen, der Nachweis von Betäubungsmitteln im Blut oder die Erstellung eines DNA-Profils Gegenstand des Gutachtens ist. Die Annahme der Exaktheit dürfte aber wohl nur eine fadenscheinige sein. Aus der Sicht von Laien können auch exakte Wissenschaften nicht immer für absolute Exaktheit garantieren (Stichwort: Fehlertoleranzen). Nicht zuletzt beeinflussen im Bereich der exakten Wissenschaften auch die gewählte Untersuchungsmethodik oder deren Anwendung, das Resultat in wohl nicht unerheblicher Weise. Beispielhaft wurde in jüngster Vergangenheit etwa aufgedeckt, dass das vermeintliche «Wundermittel» der DNA-Analyse keineswegs stets eindeutige Resultate liefert. Auch im Bereich der exakten Wissenschaften bestünde also ein Bedürfnis nach Überprüfung gutachterlicher Feststellungen oder aber zumindest die Offenheit zu wissenschaftlichem Diskurs (vgl. auch Frage 3).

Ein derartiger Diskurs könnte etwa erzielt werden, indem «Parteigutachten» denselben Stellenwert wie ein «staatsanwaltschaftliches Gutachten» erhalten würden oder das Gutachten der Staatsanwaltschaft im gerichtlichen Verfahren eben auch bloss als «Parteigutachten» angesehen würde. Die Staatsanwaltschaft ist im Hauptverfahren letztlich ja nichts anderes als eine «Partei».

Einzig das Finden eines kompetenten Gutachters durch die beschuldigte Person würde dann wohl noch Schwierigkeiten bereiten. Gerade im Bereich der exakten Wissenschaften beschränkt sich diese Kompetenz auf – meist staatlich geführte – «Kompetenzstellen» (vgl. etwa FOR oder IRM).

Frage 3: Warum stehen FOR und IRM der breiten Öffentlichkeit nicht zur Verfügung? Gerät die beschuldigte (Privat-)Partei an eine «Kompetenzstelle», wie das Forensische Institut (FOR) oder das Institut für Rechtsmedizin (IRM), stösst sie meist auf verschlossene Türen. Das IRM Zürich wirbt auf seiner Homepage etwa explizit damit, dass man Gutachten im Bereich der Verkehrsmedizin «im Auftrag von Strassenverkehrsämtern, Untersuchungs- und Justizvollzugsbehörden sowie Gerichten» anfertigt – ein allgemeines Angebot an Private wird nicht aufgeführt. Regelmässig werden konkrete Anfragen von Privaten – nicht nur beim IRM Zürich, dies zumindest zeigt sich in der Praxis der Autoren – mit Aussagen, man wolle nicht «Gutachten gegen Kollegen» erstellen oder «wir machen keine Privatgutachten», abgetan. Diese Aus-/Absagen zeigen dann aber zweierlei:

Einerseits ist darin ein Indiz zu sehen, dass man von den hauptsächlich auftraggebenden Behörden doch nicht ganz so unabhängig ist, wie man sich gerne darstellen würde. Dies würde dann auch das obige Dafürhalten für die Gleichwertigkeit von Privatgutachten unterstützen. Doch, was wäre denn das Problem, auch Privatgutachten zu machen? Hätten die entsprechenden Stellen zu fürchten, von den Behörden nicht mehr mit Aufträgen versorgt zu werden? Wir denken, nein – ein entsprechender Bedarf wird wohl immer bestehen, das Angebot an «Kompetenzstellen» wird aber wohl eingeschränkt bleiben. Und: Unabhängige Stellen hätten doch für jedermann offen zu sein. Das offene Angebot gegenüber allen würde die Unabhängigkeit der Institute und damit verbunden auch deren Glaubwürdigkeit stärken.

Andererseits ist darin ein Indiz für eine nicht ausschliessliche Verpflichtung zur Wissenschaftlichkeit zu sehen. Gerade mit Bezug auf die Einholung von Privatgutachten bei ausserkantonalen Stellen macht die Abweisung mit den obgenannten Gründen eigentlich wenig Sinn. So würde man nicht Gutachten «gegen Kollegen», sondern eigene Gutachten in der eigenen Anwendung wissenschaftlicher Methoden erstellen. Kämen diese zu einem anderen Resultat, so wäre darin gerade der Sinn der 63 Einholung eines Zweitgutachtens zu sehen. Der jeweilige Gutachter dürfte dann ohne Weiteres zu «seinem» abweichenden Resultat stehen und dieses verteidigen wollen. Dies zumindest geböte die Verpflichtung zur Wissenschaftlichkeit. Käme das Privatgutachten zum selben Resultat, wie das bereits bestehende Gutachten, so wäre darin wiederum kein Problem zu sehen, müsste kein Diskurs stattfinden, sondern würde der Kollege in seinem Resultat bestärkt.

Es stellt sich somit insgesamt die Frage: Warum besteht eine derart ablehnende Haltung gegenüber Privatgutachten?

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