Zum Bedürfnis nach Eindämmung strafrechtlicher Massnahmen
Marianne Heer
Die Entwicklung des Massnahmenrechts
Eine Rückbesinnung auf die Idee des dualistisch-vikariierenden Systems
Im Zusammenhang mit therapeutischen Massnahmen folgt das Schweizer Strafgesetzbuch dem dualistisch-vikariierenden System. Bei Vorliegen einer schweren psychischen Störung wird neben einer Strafe eine Massnahme angeordnet.97 Es erfolgt ein stellvertretender Austausch strafrechtlicher Sanktionen. Um die resozialisierenden Wirkungen der Massnahmen möglichst zu begünstigen, wird die Massnahme zuerst vollzogen und der mit einer Behandlung verbunden Freiheitsentzug auf die Dauer der Freiheitsstrafe angerechnet. Das zweispurige Sanktionensystem gehörte bei Inkrafttreten des neuen Schweizerischen Strafgesetzbuches 1942 zu dessen Prunkstücken. Das Schuldstrafrecht wurde damit bekräftigt. Gleichzeitig sollte in Ausnahmefällen durch die Schaffung der getrennten Sanktionen von Strafen und Massnahmen bei gewissen Kategorien von Straftätern Differenzierungen ermöglicht werden. Rückfalltäter einerseits, Menschen mit einem besonderen geistigen Zustand, Jugendliche und Urheber von Straftaten im Bagatellbereich andererseits wurden aus dem gewohnten Strafsystem herausgelöst. Im Zusammenhang mit der Besonderheit des Geisteszustands sollte der Tatsache Rechnung getragen werden können, dass gewisse Menschen auf Strafen nicht ansprechbar sind.
Bei der Vermittlung von strafrechtlichem Grundwissen werden das dualistisch-vikariierende Sanktionensystem und damit therapeutische Massnahmen regelmässig idealisiert, wenn fürsorgerische Aspekte in den Vordergrund gestellt werden und hervorgehoben wird, es werde beim besonderen Umgang mit psychisch gestörten Straftätern primär 62 dem wohlverstandenen Interesse des Betroffenen an einer Therapierung Nachachtung verschafft.98
So bedurfte es denn auch der expliziten höchstrichterlichen Klärung des Massnahmenzwecks durch den Hinweis darauf, angestrebt werden sollte nicht in erster Lin eine «Heilung» des Betroffenen, – die sich nota bene ohnehin nicht erreichen lässt, – sondern es gehe einzig darum, diesem ein deliktsfreie Lebensführung zu ermöglichen.99 Obwohl die Zielvorstellungen des Reformstrafrechtlers Carl Stooss in diesem Zusammenhang keineswegs kohärent und klar waren, darf nicht verkannt werden, dass es ihm vor dem Hintergrund der angestrebten energischen Verbrechensbekämpfung nicht zuletzt darum ging, ungeachtet der Verschuldensfrage gefährliche Rückfalltäter, die bereits damals zum kriminalpolitischen Feindbild gehörten,100 «unschädlich zu machen», d.h. sie auf unbestimmte Zeit internieren zu können. Skeptisch stimmen muss, dass um das dualistisch-vikariierende System vor und bei der Schaffung des Schweizerischen Strafgesetzbuches auf der strafrechtsdogmatischen Ebene hart gerungen wurde. Trotz verschiedener Gesetzentwürfe konnte man sich auch etwa in Deutschland lange nicht auf die Schaffung einer zweiten Spur neben Strafen verständigen. Verkannt wird zumeist, dass dort primär ein repressives Gedankengut und Sicherheitsüberlegungen diesem Prinzip zum Durchbruch verhalfen. Erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde durch das Gewohnheitsverbrechergesetz101 ein dualistisches Sanktionensystem eingeführt. Gemäss § 42e RStGB konnte man nun gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher mit der Sicherungsverwahrung eine Rechtsfolge anordnen, die nicht der Bestrafung, sondern ausschliesslich dem Schutz der Bevölkerung, also der Prävention, diente. Fest steht, dass es auch im Zusammenhang mit psychisch gestörten Straftätern keineswegs hauptsächlich um kurative Motive ging. Getragen von präventiven Überlegungen sollte auch hier neben einer Verbesserung der Legalprognose die Sicherung des gefährlichen Straftäters im Vordergrund stehen.
Kritische Überlegungen zur derzeitigen Situation des Massnahmenrechts
Die Fortentwicklung des Massnahmenrechts ist bekannt, stehen wir doch immer noch unter dem Eindruck der Grundhaltung, welche diese während Jahrzehnten geprägt hatte. Anfangs der 90er Jahre wurde generell ein ganz besonderes und deutlich überspitztes Sicherheitsdenken entfacht, das seither nicht nur die Justiz und den Vollzug stark unter Druck setzte, sondern auch die juristische sowie psychiatrische Wissenschaft intensiv beschäftigte. Überdies wurde das Massnahmenrecht auch mit konstanter Beharrlichkeit ins Zentrum von politischen Diskussionen gestellt. Verschiedenste Gesetzesrevisionen liessen aus dem ursprünglich streng durchdachten, kohärenten Massnahmenrecht einen «Flickenteppich» werden. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist immer mehr stark einzelfallbezogen und einseitig auf Sicherungsüberlegungen fokussiert. Sie dient kaum zu einer Klärung der unvermeidlichen Widersprüchlichkeiten.
Zurückdrängung der Verwahrung nach Art. 64 StGB
In den letzten beinahe drei Jahrzenten standen bei der Diskussion um das Massnahmenrecht zu einem grossen Teil hochgefährliche Straftäter und die Verwahrung i.S. von Art. 64 StGB im Zentrum. Die Rechtswissenschaft und forensische Psychiatrie widmeten sich seit dem Aufleben eines überspitzten und medial hochstilisierten Sicherheitsdenkens anfangs der 63 90er Jahre akribisch der Frage, wie diese Kategorie von Straftätern zuverlässig evaluiert werden kann, damit eine dauerhafte Sicherung gewährleistet werden kann.102 Nach Verbrechen von Rückfalltätern während und nach dem Strafvollzug anfangs der 90er Jahre wurde in der Schweiz sowie im deutschsprachigen Ausland schnell klar, dass bisher angewandte intuitive Methoden zur Klärung der Gefährlichkeit einer betroffenen Person nicht genügten. Es kam zur Entwicklung unzähliger neuer Prognoseinstrumente, die zu einem grossen Teil aus dem angloamerikanischen oder kanadischen Raum stammten.103 Es zeichnete sich eine Autoritätsgläubigkeit ab, welche es lange Zeit übersehen liess, dass hier grösstenteils eine standardisierte statistische (aktuarische) Methode zur Anwendung gelangt, mit der einem Individuum und dessen Besonderheiten nicht voll gerecht werden kann. Es erfolge lediglich die Bestimmung der Rückfallwahrscheinlichkeit über gruppenstatistische Berechnungsmethoden. Trotz Verfeinerungen und Korrekturen der Methoden sowie psychiatrischen Forschungsergebnissen, welche einzelnen Instrumenten eine hohe Validität zusprachen,104 bröckelte der Glaube an deren vorbehaltlose Zuverlässigkeit vor allem bei den Justizangehörigen.
Kritische Stimmen hatten schon lange zu einem vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen von standardisierten Prognoseinstrumenten gemahnt.
Vermehrt zeigte sich in der Rechtspraxis auch, dass die Methoden der forensisch-psychiatrischen Sachverständigen mit strafprozessualen Grundsätzen in Widerspruch stehen können.105 Gestützt auf die Haltung in breiten Kreisen der forensischen Psychiatrie besteht das Bundesgericht mittlerweile auf einer Kombination der verschiedenen Methoden.106 Bereits 2008 hatte es festgehalten, eine Beurteilung der Gefährlichkeit einzig auf der Grundlage von Kriterien (konkret angesprochen war das von Frank Urbaniok entwickelte Instrument «FOTRES» mit über 700 Items) ohne persönliche Untersuchung und damit ohne individuelle Beurteilung halte einer rechtlichen Prüfung nicht stand.107 Standardisierte Instrument für eine Risikobeurteilung können nur ein Hilfsmittel sein, eines von mehreren Werkzeugen, mit denen sich der Gutachter die Prognosebeurteilung erarbeitet.108 Sie liefern gegebenenfalls Anhaltspunkte über das strukturelle Grundrisiko, für sich allein indessen keine fundierte individuelle Gefährlichkeitsprognose. Hierfür bedarf es einer weitergehenden, differenzierten Einzelfallanalyse durch die sachverständige Person.109 Diese hat eine klinische Persönlichkeitsanalyse anhand einer eingehenden Exploration zur Lebensgeschichte einerseits und, auch darauf gestützt, eine Risikobeschreibung anhand der standardisierten Prognoseinstrumente anderseits vorzunehmen. Es ist eine abschliessende klinischen Gesamtwürdigung der erhobenen Risikofaktoren und deren Abgleichung mit verschiedenen Zukunftsszenarien notwendig. Bemerkenswert ist der Ansatz, die Risikobeurteilung als Prozess zu sehen, der in verschiedensten Schritten immer wieder neuen Erkenntnissen angepasst wird und die Behandlung begleitet.110
Justizangehörige können in vielen Fällen nicht von der kaum lösbaren Aufgabe entbunden werden, in 64 Abwägung divergierender Interessen die Entscheidung zu treffen, ob sich eine dauerhafte Internierung eines Menschen auf zuverlässige Entscheidungsgrundlagen stützt und letztlich ethisch und moralisch rechtfertigen lässt.
Mittlerweile wird in Justiz und forensischer Psychiatrie zugestanden, dass sich künftiges menschliches Verhalten aus grundsätzlichen und methodischen Überlegungen nie mit absoluter Sicherheit voraussagen lässt.111 Diese Erkenntnis einerseits und Überlegungen der Justizorgane zur Frage der Verhältnismässigkeit anderseits112 haben in der jüngeren Vergangenheit dazu geführt, dass Verwahrungen in der Praxis nur noch als ultima ratio begriffen und kaum mehr angeordnet werden. Entscheidend zu dieser Entwicklung hat nicht zuletzt die Revision des AT StGB von 2007 beigetragen. Gemäss dem revidierten Art. 64 StGB schliesst Behandelbarkeit einer betroffenen Person eine Verwahrung aus. Sowohl sachverständige Personen wie auch die Gerichte haben diese negative Voraussetzung einer Verwahrung sehr ernst genommen und die Erfolgsaussicht einer Behandlung jedenfalls im Stadium der originären Anordnung kaum verneint.113 Die Gerichte gingen überdies auch in konstanter Praxis davon aus, dass sich Unbehandelbarkeit erst nach einem gescheiterten Behandlungsversuch annehmen lasse, womit Ersttäter faktisch von einer Verwahrung ausgeschlossen wurden.114 Bedauerlicherweise rückte das Bundesgericht ohne Hinweis auf eine Praxisänderung von dieser Haltung ab.115 Immerhin beschränkte es diese Auffassung auf die juristischen Vorgaben des Gesetzgebers und lässt weiterhin eine offene Diskussion der Frage zu, ob psychiatrische Sachverständige ohne Erfahrungen im Rahmen einer bereits durchgeführten Therapie zu einem solchen Verdikt kommen können.116
Verlagerung der dauerhaften Internierungen auf die Massnahmen nach Art. 59 StGB
Bei der Diskussion der dargelegten schwer zu lösenden Problemen im Zusammenhang mit der Verwahrung nach Art. 64 StGB blieb weitgehend unbeachtet, welcher Entwicklung die therapeutischen Massnahmen und deren Vollzug ausgesetzt waren. Das übersteigerte Sicherheitsdenken machte aber auch vor diesen Behandlungsmassnahmen nicht Halt. Hier sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Es ist zu beobachten, dass vor dem Hintergrund eines zunehmend punitiven Denkens therapeutische Massnahmen deutlich länger dauern als früher. Mittlerweile soll sich in Deutschland jeder Dritte mehr als 10 Jahre im Vollzug einer Massregel nach § 63 D-StGB (einer Massnahme Art. 59 StGB entsprechend) befinden.117 In der Schweiz hat sich etwa bei Massnahmen i. S. v. Art. 59 StGB der mittlere Insassenbestand seit 2006 mehr als verdreifacht.118. Dies obwohl die Zahl der Einweisungen tendenziell rückläufig ist.119 Die Massnahmen dauern deutlich länger als früher120, wobei die Zahlen des Bundesamtes für Statistik nicht durchwegs aussagekräftig sind, weil sie nur die Massnahmen in Justizvollzugsanstalten ausweisen und nicht differenziert wird zwischen den unbestimmt langen und den zeitlich limitierten Massnahmen.121 Die Erfahrungen von Klinikleitern, Vollzugsverantwortlichen und juristischen Entschei- 65 dungsträgern lassen vermuten, dass sich die Verhältnisse bei in der Schweiz nicht anders präsentieren als in Deutschland. Dies gilt in erster Linie für Massnahmen nach Art. 59 Abs. 3 StGB, dürfte aber auch für solche nach Art. 59 Abs. 1 StGB zutreffen.
Problematische Vollzugsituation122
Die aufgezeigte Situation hat einen negativen Einfluss auf die Vollzugssituation, die teilweise als prekär bezeichnet werden muss. Mangels ausreichender Ressourcen in den verschiedenen Justizvollzugsanstalten, insbesondere in der französischen Schweiz, und der Überbelegung von psychiatrischen Kliniken besteht eine grosse Gefahr, dass Therapien nicht erfolgversprechend sind. Nachverfahren i.S. von Art. 363 ff. StPO, die eine Umwandlung der ambulanten Behandlung in eine stationäre therapeutische Massnahme oder gar einen Wechsel von der letztgenannten Intervention in eine Verwahrung zum Gegenstand haben, nehmen denn auch deutlich zu.
Die Betroffenen sehen sich in der Realität statt mit einer ernstzunehmenden Chance, die Legalprognose unter Verzicht auf einen späteren Strafvollzug verbessern zu können, mit einer doppelten Bestrafung konfrontiert.
Immerhin schränkte bereits der Gesetzgeber den Austausch einer blossen Strafe mit einer Verwahrung nach Art. 65 Abs. 2 StGB ein, indem ein solches Vorgehen einzig bei revisionsrechtlichen Noven zulässig sein sollte. Das Bundesgericht zog bei einer Umwandlung einer blossen Strafe nach Art. 65 Abs. 1 StGB nach. Obwohl es das entsprechende Verfahren anders als bei Art. 65 Abs. 2 StGB nicht als Revision i.S. von Art. 410 ff. StPO begreifen und es nach Art. 363 ff. StPO laufen lassen will, knüpft es die Zulässigkeit eines entsprechenden Vorgehens an die gleichen Voraussetzungen wie bei einer nachträglichen Verwahrung.123
Zur sog. «kleinen Verwahrung»
Viel zu spät erkannt wurde auch die Mutation der stationären therapeutischen Massnahme gegenüber besonders gefährlichen Straftätern i.S. von Art. 59 Abs. 3 StGB zum Surrogat für eine Verwahrung i.S. von Art. 64 StGB. Dass eine solche Unterbringung des Betroffenen im gesicherten Bereich entgegen den ursprünglichen Intuitionen des Gesetzgebers keinen hohen Anforderungen untersteht und generell therapeutische Massnahmen seit der Revision des AT StGB faktisch voraussetzungslos in Strafanstalten vollzogen werden können, führte zu einer Aushöhlung des Massnahmenrechts. Das zweispurige Sanktionensystem wird damit aus den Angeln gehoben. Die aufgezeigte Reduktion der Verwahrungen führte nicht wirklich zu einer Eindämmung von zeitlich sehr langen unbestimmten Freiheitsentzügen. Vielmehr kam es lediglich zu einer Umverteilung. Statt einer Verwahrung wird in der Praxis regelmässig eine gesicherte stationäre Massnahme i. S. von Art. 59 Abs. 3 StGB angeordnet. Diese unterscheidet sich, soweit sie in Strafanstalten vollzogen wird, was nicht selten der Fall ist, einzig durch einen Auftrag zur Behandlung der betroffenen Person. Wie bereits erwähnt, kann dieser mit Blick auf die eingeschränkten Ressourcen nicht selten ungenügend umgesetzt werden.
Das Bundesgericht stellt in ständiger Praxis zwar sehr hohe Anforderungen an die Voraussetzungen eine Massnahme i.S. von Art. 59 Abs. 3 StGB. Es muss sich demnach um eine konkrete und qualifizierte, d.h. sehr wahrscheinliche Gefährlichkeit handeln. Eine Anwendung von Art. 59 Ab. 3 StGB muss nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit mit der Befürchtung einer schwerwiegenden Gefährdung der Sicherheit oder der internen Ordnung einer offeneren Anstalt begründet werden können. Das Bundesgericht spricht von einer 66 «schwerwiegenden Gefährdung hochwertiger Rechtsgüter». Eine solche gesicherte Unterbringung rechtfertigt nach dieser Rechtsprechung einzig eine konkrete wahrscheinliche Gefahr weiterer Straftaten, mit der in einer (offenen) therapeutischen Einrichtung schlechthin nicht umgegangen werden kann. Sie soll nach den ausdrücklichen Feststellungen des Gerichts nur in Ausnahmefällen zum Tragen kommen und zeitlich limitiert sein.124 Zu beachten ist, dass das Bundesgericht bei der Thematisierung der Anforderungen an die Gefährlichkeit der betroffenen Person ausdrücklich auf Urteile verweist, welch die Verwahrung betreffen.125
Tatsächlich lässt sich eine stationäre Unterbringung in besonders gesichertem Rahmen nur vertreten, wenn alle Voraussetzungen einer Verwahrung i.S. von Art. 64 StGB erfüllt sind. Diese beachtenswerte Rechtsprechung prägt die Vollzugsrealität jedoch wenig.
Bedenklich stimmt, dass in der Praxis ungeachtet einer besonderen Prüfung der erforderlichen besonderen gesetzlichen Voraussetzung Straftäter generell vorerst in gesicherte Institutionen i.S. von Art. 59 Abs. 3 StGB eingewiesen werden.126 Ein Wechsel in offenere Anstalten ist in einem Klima der Nulltoleranz mit grossen Schwierigkeiten verbunden. Vollzugsverantwortliche stehen unter argwöhnischer Beobachtung einer rein sicherheitsorientierten Öffentlichkeit. Justizpannen und damit verbundene öffentlich ausgetragene Schelten, mögen sie auch zumindest zahlenmässig kaum erwähnenswert sein, fördern erfahrungsgemäss deren Entscheidungsfreudigkeit nicht gerade.
Kaum hoffnungsvolle Möglichkeiten einer Verbesserung der prekären Vollzugsrealität und Aufblähung der Massnahmen
Soll das Massnahmenenrecht nicht wieder in die «Steinzeit» eines humanen Denkens zurückgeworfen werden und soll eine differenzierte Beurteilung eines Straftäters mit geistigen Besonderheiten wieder offen und wertfrei vorgenommen werden können, wie dies in einer aufgeklärten Gesellschaft selbstverständlich sein sollte, tut es Not, diese Unzulänglichkeiten zu überdenken und ihnen entgegenzuwirken. Weitgehend gescheitert ist man damit, den Begriff der Gefährlichkeit eng auszulegen und hohe Anforderungen an diese Voraussetzung einer Massnahme zu stellen. Bei therapeutischen Massnahmen stand diese Voraussetzung traditionsgemäss im Schatten der Fragen um die Behandlung, was mit Blick auf die derzeit erkennbare Dauer und den Unzukömmlichkeiten beim Vollzug von stationären Massnahmen nicht mehr vertreten werden kann. Es fehlt bei Justizangehörigen und naturgemäss bei dem Behandlungsgedanken stark verpflichteten Ärztinnen und Ärzten oft ein Sensorium für damit verbundene grundsätzliche Probleme. Etwas Hoffnung lässt die Rechtsprechung aufkommen, die zumindest in einem fortgeschrittenen Stadium des Vollzugs dem Verhältnismässigkeitsprinzip zunehmend eine Bedeutung zukommen lässt. Es ist zu begrüssen, dass das Bundesgericht die Möglichkeit aufzeigte, an sich zeitlich unbefristete therapeutische Massnahmen i.S. von Art. 59 StGB nur noch auf eine bestimmte, beschränkte Dauer zu verlängern, wovon die Praxis vermehrt Gebrauch macht.127 Eine zeitliche Limitierung von Massnahmen wird sogar bei der erstmaligen Anordnung der stationären Massnahmen geschützt.128 Dies ist allerdings nur ein Tropfen auf einen heissen Stein.
67 Wenig zu erwarten ist auch von politischen Entscheidungsträgern, wenn Forderungen nach Verbesserungen bei der Vollzugssituation gestellt werden. Zweifellos lässt sich dort die Überzeugung der Notwendigkeit von Vorkehren zur Verbesserung der Sicherheit relativ leicht herstellen, selbst bei politischen Parteien, die regelmässig für eine Senkung von Kosten staatlichen Handelns einstehen.
Die Erfahrung hat denn auch gezeigt, dass Institutionen mit hohen Sicherheitsstandards ausgebaut werden konnten,129 während Änderungen der unbefriedigenden Situation bei Einrichtungen im tieferen Risikobereich und bei solchen mit niederschwelligerem Angebot ebenso wie unabdingbare Verbesserungen im Bereich des Übergangsmanagements am Ende des Vollzugs130 weitgehend auf der Strecke bleiben.
Bei den politisch Verantwortlichen (KKJPD) wird die prekäre Vollzugssituation zwar erkannt und breit thematisiert. Dort erfolgt indessen ausschliesslich eine Fokussierung auf die Frage der Kapazitäten, während Themen wie Qualität und Erfolge völlig ausgeblendet werden.131
So ist denn zu befürchten, dass sich ohne umfassende Strukturänderungen sowie vor allem ein Umdenken in der Rechtsprechung und im Vollzug im Massnahmenrecht die negative Spirale weiter nach unten dreht. Das übersteigerte Sicherheitsdenken hat sich derart verfestigt, dass hier wenig Hoffnung auf Änderungen besteht. So lässt sich zusammenfassend denn konstatieren, dass die Diskussion der Gefährlichkeit von Straftätern als Mittel für eine Eingrenzung der Massnahmen kaum taugt bzw. eine solche Herangehensweise unweigerlich an unüberwindbare Grenzen stösst.
Der Umgang mit der schweren psychischen Störung als Korrektur dieser unheilvollen Entwicklung der strafrechtlichen Massnahmen
Zur historischen und aktuellen Bedeutung der psychischen Störung
In der jüngeren Rechtspraxis tritt nun wie ein Phönix aus der Asche die «schwere psychische Störung» auf. Es wird dieser zwingenden Voraussetzung einer therapeutischen Massnahme plötzlich auch in Kreisen der Justiz ungeahnte Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Entwicklung bahnte sich langsam an und blieb bisher weitgehend unerkannt. Dies mag damit zusammenhängen, dass in Lehre und Rechtsprechung an diesen Begriff wertfreier herangegangen wird als an denjenigen der Gefährlichkeit, der seit langer Zeit stigmatisiert ist und zu einem «Treten an Ort» geführt hat.
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein kurzer Blick auf die historische Entwicklung.132 Die psychische Störung bzw. deren Umschreibung fand lange Zeit in Kreisen der Justiz kaum besondere Beachtung. Es erfolgte eine Orientierung in erster Linie an der Behandlungsbedürftigkeit der betroffenen Person. In Art. 43 Ziff. l aStGB wurde als Voraussetzung für die Anordnung einer therapeutischen Massnahme (und einer Verwahrung) ein «Geisteszustand» des Täters, der eine Behandlung oder Pflege erfordert, verlangt. Anlässlich der Revision des AT StGB von 2007 wurde diese Voraussetzung einer therapeutischen Massnahme allerdings intensiv diskutiert. Im Vorentwurf der Expertenkommission zum derzeit geltenden Art. 59 StGB wurde auf das Erfordernis einer psychischen Störung näher eingegangen und differenziert zwischen «geistig kranken» bzw. «schwer behinderten» Personen einerseits und Personen, die an einer «tief greifenden Persönlichkeitsstörung» leiden andererseits. Letzteres Störungsbild, das bei Straftätern sehr oft zu beobachten ist, sollte nicht Anlass zur Anordnung einer therapeutischen Massnahme geben können, eine Verwahrung dagegen 68 sollte nur bei diesem möglich sein (Art. 61 und 68 VE).133 Dies stiess in psychiatrischen Fachkreisen auf heftige Kritik, weshalb in der Folge einzig der Begriff der «psychischen Störung» Eingang ins Gesetz fand und bewusst auf jede Klassifikation verzichtet wurde. Dies sollte zum Ausdruck bringen, dass grundsätzlich die ganze Bandbreite der nach wissenschaftlichen Kriterien diagnostizierbaren, vom sog. Normalen abweichenden psychischen Phänomene zu einer therapeutischen Massnahme führen kann.134 Klares Anliegen des Gesetzgebers war es dabei, entsprechend der Lehre und Rechtsprechung zum alten Recht, einzig Störungen von besonderer Schwere als rechtsgenüglich anzuerkennen, was zur heute geltenden Formulierung von Art. 59 und Art. 63 StGB führte. In Bezug auf ambulante Behandlungen präzisierte das Bundesgericht in seiner späteren Rechtsprechung, dass entgegen seiner Praxis zum alten Recht hier keine Differenzierung zwischen stationärer und ambulanter Massnahme mehr vorzunehmen sei.135 Der besonderen Schwere einer Störung bedarf es somit auch bei solchen weniger eingriffsintensiven Massnahmen. Der Vorschlag im Gesetzgebungsprozess von dritter Seite, auf eine psychiatrische Diagnose als Voraussetzung für eine stationäre therapeutische Massnahme zugunsten einer reinen Fokussierung auf eine Risikobeurteilung zu verzichten,136 wurde damit klar abgelehnt.
Der Gesetzgeber verzichtete indessen, sich weiter auf die Frage einzulassen, wie dieser unbestimmte Gesetzesbegriff der «schweren psychischen Störung» auszufüllen sei.
In der Praxis orientierte man sich in der Folge weitgehend an sog. operationalisierten Diagnosesystemen wie ICD-10 oder DSM-IV bzw. in der heutigen Fassung DSM-5. Die Psychiatrie hatte in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten einheitliche Kriterien für eine verlässliche psychiatrische Diagnostik herausgearbeitet, welche u.a. die psychiatrische Diagnose nachvollziehbar erscheinen lassen sollten. Es war und ist eine grosse Herausforderung, psychiatrische Begriffe und Denkweisen Angehörigen der Justiz zugänglich zu machen. Und umgekehrt geht es darum, bei forensischen Psychologen und Psychiatern das Verständnis für das Bedürfnis der Justizangehörigen nach klar strukturierten und nachvollziehbaren Voraussetzungen für einen eingriffsintensiven Freiheitsentzug wie eine strafrechtliche Massnahme zu wecken. Hier kommen schwierige Kompetenzabgrenzungen zwischen Justiz und Psychiatrie zum Tragen. Es müssen teilweise schwierige Abgrenzungsfragen und Definitionsversuche vorgenommen werden mit dem Ziel einer einheitlichen Sprachregelung.137 Fest steht nach heutigem Verständnis der Rollenverteilung, dass sich nicht nur forensische Psychiater ausreichende Kenntnisse über Straf- und Strafprozessrecht verfügen müssen, sondern sich auch Angehörige der Justiz um ein Verständnis der medizinischen Überlegungen zu bemühen haben, um ihre Kontrolle über die Gutachten als Beweismittel ausüben und damit letztlich die Verantwortung für Entscheide im Massnahmenrecht wahrnehmen zu können. 69
Umschreibung des Begriffs der psychi- schen Störung und deren Quantifizierung
Grundsätzliches
Die erwähnte Kontroverse betreffend den Inhalt und die Bedeutung einer psychischen Störung im Gesetzgebungsprozess hallte jedenfalls in der juristischen Praxis nicht nach. Weiterhin verorteten die juristische Literatur und die Rechtsprechung zumindest in der Schweiz lange dieses Thema ausschliesslich im Kompetenzbereich der Psychiatrie. Man fand sich unbesehen mit entsprechenden gutachterlichen Erkenntnissen ab. In jüngerer Zeit zeigte sich allerdings in der öffentlichen Diskussion sowie auch in gewissen Kreisen der Psychiatrie eine kritische Haltung gegenüber psychiatrischen Diagnosen. Zu denken ist etwa an die Konstatierung einer Ausweitung des Krankheits- bzw. Störungsbegriffs, die in jüngerer Zeit u. a. mit der Schaffung der 5. Auflage des Diagnostischen Manuals für psychische Störungen (DSM-5) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft erfolgte und teilweise heftig kritisiert wurde.138 Durch eine Veränderung oder ein Weglassen von Diagnosekriterien oder die Herabsetzung von Mindestanforderungen kam es dort zu einer Pathologisierung von früher als gesund erachteten Verhaltensweisen. In die gleiche Richtung weist die Umschreibung weiterer Störungen, die alltägliche Verhaltensweisen und Gefühlszustände erfassen.139 Erwähnt sein soll auch das Wiederaufleben der erwähnten früheren Bestrebungen von Frank Urbaniok, den Stellenwert einer geistigen Beeinträchtigung bei einer Risikoanalyse und damit bei der Anordnung von Massnahmen zu relativieren bzw. die im Massnahmenrecht zentrale Risikobeurteilung losgelöst von einer psychischen Störung zu beurteilen.140 Dies liess offensichtlich auch Angehörige der Justiz aufhorchen. Es zeichnete sich überdies generell eine Entwicklung ab, psychiatrische Erkenntnisse zu hinterfragen.
Insbesondere im Zusammenhang mit der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen wurde den forensischen Psychiatern (ebenso wie der Jurisprudenz) die Qualität einer exakten Wissenschaft abgesprochen und auf einen grossen Ermessensspielraum hingewiesen,141 der mit eigenen Wertvorstellungen gefüllt sein könnte.142
Entsprechend haben Angehörigen der Justiz das Bedürfnis und auch die Pflicht, psychiatrischen Gutachten als Beweismittel im Strafprozess zu hinterfragen und zu kontrollieren.
Diagnose i.S. der Diagnosemanuale ICD-10 oder DSM-5 als erster Schritt einer Beurteilung der psychischen Störung
Bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung stellt sind in einem ersten Schritt die Frage, wie blosse Auffälligkeiten in der Persönlichkeit von einer eigentlichen juristisch relevanten Störung abzugrenzen sind.
Mittlerweile ist in weiten Teilen anerkannt, dass eine scharfe Grenzziehung zwischen den noch normalen und den von der Norm abweichenden psychischen Zuständen vorzunehmen ist, was nicht immer leicht fällt. Man sieht sich mit kontinuier- 70 lichen Übergängen und fliessenden Grenzen konfrontiert.143
Soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen, sollten nicht als psychische Störung im hier definierten Sinne angesehen werden. Entsprechend ist in der Praxis etwa zu unterscheiden zwischen dissozialen Persönlichkeitsstörungen und massnahmenrechtlich nicht relevanter Dissozialität als Lebensstil. Es ist im Einzelfall immer eine Abgrenzung vorzunehmen zwischen einer Krankheit, die sich auch in kriminellen Handlungen äussern kann, und blosser Kriminalität. Auf diese Weise lässt sich klären, ob einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, die im Kontext mit dem Strafrecht häufig ein Thema ist, die erforderliche Schwere zukommt.144
Immer haben sich Angehörige der Justiz in Erinnerung zu rufen, dass forensisch-psychiatrische Diagnosen nicht willkürlich gestellt werden dürfen, sondern sich auf einheitliche Standards und Leitlinien zu stützen haben.
Immer haben psychiatrische Diagnosen mittels der vorgegebenen Kriterien begründet zu sein. Bei den im Justizalltag häufig vorgefundenen Persönlichkeitsstörungen etwa haben alle sechs Eingangskriterien dieser Störungsgruppe erfüllt zu sein. Wenn dies der Fall ist, muss in einem zweiten Schritt auf die Kriterien einer spezifischen Persönlichkeitsstörung nachvollziehbar eingegangen werden.145 Auch die Diagnose einer paraphilen Störung bzw. sexuellen Präferenzstörung hat sich an den vorgegebenen Kriterien zu orientieren. Nicht jede sexuelle Handlung mit einem Kind lässt auf Pädophilie schliessen. Auch die derzeit bei gewissen Sachverständigen beliebte Diagnose eines ADHS im Erwachsenenalter beurteilt sich aufgrund von 18 Kriterien. In der psychiatrischen Literatur wird hervorgehoben, dass gemäss den gebräuchlichen Diagnoseschlüsseln relevante Kriterien unscharf und interpretationsbedürftig sind.146 In diesem Zusammenhang ist, wie bereits erwähnt, auf den Ermessensspielraum und die Bedeutung der individuellen Wertvorstellungen bei der Diagnose etwa einer Persönlichkeitsstörung hinzuweisen.147
Zur Bestimmung der besonderen Schwere einer psychischen Störung als zweiter Schritt einer Beurteilung
Allgemeines
Zögerlich setzte sich dann in der Praxis die Erkenntnis durch, dass nicht jede auf DSM-5 oder ICD-10 gestützte psychiatrische Diagnose zwingend auch als schwer im rechtlichen Sinne zu qualifizieren ist bzw. den juristischen Anforderungen an dieses Eingangsmerkmal genügt. Allein die Subsumtion einer Auffälligkeit unter eine Störung i. S. eines Klassifikationssystems berechtigt nicht zur Annahme einer juristisch relevanten schweren psychischen Störung. Die dort aufgelisteten psychischen Störungen haben höchst unterschiedlichen Einfluss auf die psychosoziale Leistungsfähigkeit und insb. auf die Verantwortlichkeit der betroffenen Personen. Dies wird in der DSM-5 sogar ausdrücklich hervorgehoben. Es bedarf vielmehr noch einer Erweiterung der Optik durch eine differenzierte psychopathologische Befunderhebung und insb. eine einzelfallbezogene individuelle Bestimmung des Schweregrads einer psychopathologischen Symptomatik.148 Es 71 darf nicht vergessen werden, dass die fraglichen Klassifikationssysteme ICD-10 bzw. ICD-11 und DSM-5 lediglich einer Verbesserung der Reliabilität und der internationalen Vergleichbarkeit der Diagnose dienen. Sie sind nicht für juris- tische Belange bzw. forensisch-psychiatrische Fragen entwickelt worden.
Die Frage der Schwere einer Störung interessiert in erster Linie im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen, besondere Aufmerksamkeit ist aber auch der Pädophilie zu schenken. Nicht zu unterschätzen ist dieses Problem schliesslich auch bei der jüngst in Mode gekommenen Diagnose eines ADHS im Erwachsenenalter. Sogar eine Schizophrene, deren Auswirkungen für psychiatrische Laien ohne weiteres als gravierend erachtet werden, genügt nicht in jedem Fall den juristischen Anforderungen an eine schwere Störung.
Nähere Umschreibung der Schwere einer psychischen Störung in der psychiatrischen Wissenschaft
Es finden sich in der forensisch-psychiatrischen Wissenschaft zahlreiche Ansätze, sich dem Begriff der Schwere einer Störung anzunähern. Als wichtig erwies sich zu beachten, dass die rechtlich relevanten Auswirkungen etwa einer Persönlichkeitsstörung auch in anderen Lebensbereichen als in der Delinquenz erkennbar sein müssen. Kennzeichnend für die Schwere einer Störung ist, dass die betroffene Person ihre Autonomie verliert, ihr Leben zumindest in einer Vielzahl von Bereichen zu gestalten. Mithin ist deren soziale Kompetenz im Allgemeinen eingeschränkt. 149
Als weiterführend erwies sich das von Henning Sass entwickelte Psychopathologische Referenzsystem. Hier wird ein Vergleich mit den Einschränkungen durch andere psychischen Störungen vorgenommen, die als schwer gelten. Es wird danach gefragt, ob ein vorgefundenes Zustandsbild diesen gleichgesetzt werden kann.150 Zu denken ist etwa an die psychotischen Erkrankungen als Referenz. Eine schwere psychische Störung entspricht demnach den unbestritten als schwer geltenden Erkrankungen in ihrem Gewicht und weist Symptome auf, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen – auch sozialen – Folgen stören, belasten oder einengen.151
In der psychiatrischen Literatur findet sich auch etwa der Vorschlag, eine ausreichende Schwere einer Persönlichkeitsstörung sei dann anzunehmen, wenn die Regulierung des Selbstwertgefühls ständig von Dekompensation bedroht sei. Dies ist bei gravierenden Borderline- oder schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, insbesondere in Lebenskrisen, der Fall. In die Kategorie der schwer gestörten Personen sollen überdies auch Betroffene fallen, die zur Stabilisierung des Selbstwerts anhaltend auf gefährliche psychodynamische Mechanismen angewiesen sind, wie dies etwa bei schweren sexuellen Deviationen der Fall sein kann.152
Ein gewichtiges Indiz für eine Persönlichkeitsstörung der erforderlichen Schwere ist die Beobachtung, dass ein rigides und dysfunktionales Verhaltensmuster in der Wahrnehmung anderer Personen und in der Beziehungsgestaltung in ganz unterschiedlichen Bereichen vorhanden ist, das immer wieder zu gleichartigen und schweren Konflikten und problematischen Reaktionen der betroffenen Person führt. Verfügt im Gegensatz dazu die betroffene Person in bestimmten, insb. 72 konflikthaften, sozialen Kontexten über gut erhaltene psychosoziale Kompetenzen, lässt sich eine besondere Schwere der Persönlichkeitsstörung nicht begründen. Dies kann z. B. bei der Diagnose der dissozialen Persönlichkeitsstörung der Fall sein, wenn sich die betroffene Person in einem subkulturellen Milieu erfolgreich bewegen kann.153
Vollends zu befriedigen vermögen diese Versuche einer Konkretisierung des Schweregrads einer Störung indessen jedenfalls Angehörige der Justiz nicht, sie sind doch für diese nicht durchwegs nachvollziehbar.
Zögerliche Einlassung der Schweizer Gerichte auf die Klärung dieser Frage
Mit der Quantifizierung der psychischen Störung befassten sich in der jüngeren Vergangenheit deutsche Gerichte intensiv, welche Feststellungen auf Schweizer Verhältnisse übertragbar sind. Zu beachten ist auch die Rechtsprechung des EGMR, der den Begriff des «unsound mind» im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK zu umschreiben hatte. Der Gerichtshof bestimmt die Reichweite und die Grenzen des «unsound mind» gestützt auf den Zweck dieser Bestimmung. Das heisst bei entsprechender Auslegung des Begriffs schliesst der Gerichtshof vom Vollzugsort auf die Qualität der Störung. Der für eine «true mental disorder» erforderliche Schweregrad beurteilt sich danach, ob dieser Zustand eine Unterbringung in einem Spital, einer Klinik oder in einer anderen geeigneten Klinik notwendig macht.154 Mittlerweile findet sich aber auch in der Schweiz eine beachtenswerte Bearbeitung dieser Thematik nicht nur in der Literatur, sondern diese Frage ist auch Gegenstand von zahlreichen Entscheiden des Bundesgerichts. Entsprechende Textbausteine zur Umschreibung einer Störung von erheblicher Schwere finden sich immer häufiger in Urteilen zum Massnahmenrecht.155
Eine klare Linie ist dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung allerdings nicht zu entnehmen. Weiter äusserte sich das Schweizer Bundesgericht bisher nicht substantiell zur Frage der Umschreibung der Schwere einer Störung.
So ist es denn kein Zufall, dass in Kreisen vieler psychiatrischer Sachverständiger und der Rechtswissenschaft immer wieder bemängelt wird, eigentliche Kriterien für eine Beurteilung des Schweregrades einer Störung würden fehlen. Bei näherem Hinsehen lässt sich diese Kritik indessen nicht aufrechterhalten.
Klare Kriterien für eine Verdeutlichung der besonderen Schwere einer psychischen Störung gemäss den deutschen «Mindeststandards für die Schuldfähigkeitsbegutachtung» und deren Massgeblichkeit für die Schweiz
In Deutschland sah man sich viel früher als in der Schweiz im Zusammenhang mit Eingangsmerkmal der «anderen schweren seelischen Abartigkeit» gemäss Art. 66 D-StGB bei der Sicherungsverwahrung, die in ihrer Ausgestaltung praktisch Art. 59 Abs. 3 StGB entspricht, mit der Erkenntnis konfrontiert, dass die medizinische Diagnose nichts Abschliessendes aussagt über den Schweregrad der Störung.156 Entsprechend setzte dort eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Problem, die ihren Niederschlag auch in der Rechtsprechung fand, deutlich früher ein. Auf diesen Fundus ist zurückzugreifen. Zwar wird die Problematik in Deutschland zumeist sehr eng im Zusammenhang mit der Schuldfähigkeit behandelt. Dies 73 ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass dort eine Verminderung oder ein Ausschluss der Schuldfähigkeit Voraussetzung für die Anordnung einer Massnahme ist, während nach Schweizer Recht auf dieses Erfordernis schon lange verzichtet wurde.157 Dies ändert aber nichts an der Allgemeingültigkeit jener Überlegungen in Deutschland und damit auch der Massgeblichkeit für unsere Verhältnisse. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die unbestrittene Tatsache, dass in Art. 19 StGB ungeachtet des lückenhaften Wortlauts eine schwere psychische Störung Bedingung für eine Beeinträchtigung oder einen Ausschluss der Schuldfähigkeit ist, die sich nicht vom selben im Massnahmenrecht verwendeten Begriff unterscheidet.158 Eine unter der Leitung von Axel Boetticher wirkende interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppe entwickelte sog. «Mindeststandards für die Schuldfähigkeitsgutachten», die Kriterien für eine Festlegung des Schweregrads einer psychischen Störung enthalten. Die Verfasser dieser Mindeststandards fokussierten ihre Überlegungen in erster Linie auf die häufig umstrittenen Diagnosen einer Persönlichkeitsstörung und die in jüngerer Zeit im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehenden Störungen der Sexualpräferenz (z.B. Pädophilie). Diese Arbeiten fanden ihren Niederschlag in der Rechtsprechung des deutschen BGH, wo Axel Boetticher lange Jahre als Richter wirkte. Das Schweizer Bundesgericht erachtet diese Mindeststandards als auch für die Schweiz tauglich,159 was bisher kaum Beachtung fand.
Persönlichkeitsstörungen: In den «Mindeststandards für die Schuldfähigkeitsgutachten» findet sich eine wertvolle Anleitung für die Beurteilung des Schweregrades einer Störung, auf die nachfolgend näher einzugehen ist. Für die Bewertung der Schwere einer psychischen Störung ist insbesondere massgebend, ob es im Alltag ausserhalb des zu beurteilenden Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist.160
Charakteristika für besonders schwere Persönlichkeitsstörungen sind demnach:
erheblichen Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation;
Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens;
durchgängigen oder wiederholten Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile;
durchgehenden Störung des Selbstwertgefühls;
deutliche Schwäche von Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen.
Gründe, die gegen die Annahme einer besonderen Schwere einer Persönlichkeitsstörung sprechen:
Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit ohne schwerwiegende Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit;
weitgehend erhaltene Verhaltensspielräume;
Selbstwertproblematik ohne durchgängige Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung und psychosoziale Leistungsfähigkeit;
intakte Realitätskontrolle, reife Abwehrmechanismen;
altersentsprechende biographische Entwicklung.
Beachtenswert ist die Erkenntnis, dass es sich bei den Verläufen von Persönlichkeitsstörungen nicht um absolute Grössen handelt. So wird zugestanden, dass die Persönlichkeitsmerkmale im Verlauf des Lebens weitgehend unver- 74 ändert bleiben. Der Grad der Ausprägung ist indessen im Laufe der Zeit und in Abhängigkeit von den Lebensumständen unterschiedlich. Weiter lässt sich beobachten, dass behandlungsbedürftige Krisen bevorzugt im früheren Erwachsenenalter auftreten. Diese werden im Verlauf des Lebens seltener.161
Schwere sexuelle Deviationen: Der überwiegende Teil von Sexualstraftaten wird nicht primär durch psychische Störungen verursacht. Sexuell deviante Interessen dürfen nicht als Synonym für eine psychische Krankheit oder eine entsprechende Gefährlichkeit der betroffenen Person verstanden werden.162 Nicht jede mehr oder weniger bewusste Grenzüberschreitung darf psychopathologisch interpretiert werden. Keinesfalls lässt sich etwa auch aus dem Vorliegen einer pädophilen Neigung bei der betroffenen Person automatisch auf Delikte gegenüber Kindern schliessen. Oder nur sehr selten steht hinter einer Vergewaltigung ein Motiv des sexuellen Sadismus bzw. der sexuell sadistischen Störung.163 In der psychiatrischen Fachliteratur wird zur Zurückhaltung bei dieser Diagnose gemahnt.164 Es muss in jedem speziellen Einzelfall begründet werden, weshalb es bei den betroffenen Personen, die im Bereich der Sexualität von der Norm abweichende Präferenzen aufweisen, strafrechtlich relevante Besonderheiten vorliegen sollen. Einzig mit einem Sexualdelikt lässt sich die Indikation einer Massnahme nicht begründen.165 Die Störungen der Sexualpräferenz sind demgemäss gleich wie bei den Persönlichkeitsstörungen sorgfältig anhand ihrer Ausprägung auf ihre Krankheitswertigkeit und damit auf ihre forensische Relevanz hin zu überprüfen.166 Die Fragestellung lautet, in welchem Ausmass diese Störung den Alltag dieser betroffenen Person bestimmt und diese beeinträchtigt.167 Für die Einordnung einer Verlaufsform als schwer oder leicht ist zu klären, ob etwa im Fall einer Pädophilie die Sexualität durch die pädophile Präferenz dominiert wird, ob diese progredient verläuft und zu Leidensdruck bzw. zu nachteiligen sozialen Konsequenzen geführt hat.168
Schon beim ersten Schritt einer Diagnose gemäss einem Klassifikationssystem sind hier somit hohe Anforderungen an die Herleitung einer Störung zu stellen. Nach DSM-5 werden Paraphilien und paraphile Störungen unterschieden, wobei die Störung mit Leiden der betroffenen Personen oder der Opfer verbunden sein soll. Entsprechend wird einerseits mit dem A-Kriterium eine überdauernd sexuelle Symptomatik beschrieben. Dabei gilt es zu beachten, dass für eine entsprechende Diagnose eine betroffene Person mindestens 18 Jahre alt zu sein hat. Weiter haben hier alle Kriterienkombinationen über eine Dauer von mindestens 6 Monaten vorzuliegen. Anderseits werden mit dem B-Kriterium die Verhaltensebene, d. h. etwa das Ausleben gegenüber einer nicht einwilligenden oder einwilligungsfähigen, nichtsahnenden Person bzw. der Leidensdruck oder die Funktionsbeeinträchtigung bzw. nachteiligen Folgen für andere Personen beschrieben. Gemäss der Terminologie der ICD-10 wird der Begriff der «Störung der Sexualpräferenz» verwendet, der nach ICD-11 zugunsten des Begriffs der «paraphilen Störung» aufgegeben werden wird (Stand: April 2019).
Bereits erwähnt wurde die Tatsache, dass mit der Feststellung einer Pädophilie noch nicht zwingend eine krankheitswertige bzw. juristisch relevante Störung gegeben ist. Besondere Aufmerksamkeit ist daher in einem zweiten Schritt dem Ausprägungsgrad der Störung zu 75 schenken.169 Die Einschränkungen, wie sie bei krankhaften seelischen Störungen (z.B. psychotischen Störungen) vorliegen, gelten dabei als Referenz. Sachverständige haben in ihren Gutachten einzugehen auf die Intensität der Paraphilie, die Integration in die Persönlichkeit und die bisherige Fähigkeit zur Kontrolle über paraphile Impulse.170
Kriterien, die für die Einstufung einer Paraphilie als schwere psychische Störung (schwere andere seelische Abartigkeit nach deutschem Strafrecht) sprechen:
Die Sexualstruktur ist weitestgehend durch die paraphile Neigung bestimmt.
Eine ich-dystone (ich-fremde) Verarbeitung führt zur Ausblendung der Paraphilie.
Eine progrediente Zunahme und «Überflutung» durch dranghafte paraphile Impulse mit ausbleiben-der Satisfaktion beherrscht zunehmend das Erleben und drängt zur Umsetzung auf der Verhaltensebene.
Andere Formen soziosexueller Befriedigung stehen dem Beschuldigten aufgrund (zu beschreibender) Persönlichkeitsfaktoren und/oder (zu belegender) sexueller Funktionsstörungen erkennbar nicht zur Verfügung.171
Ausblick: Die Einführung der ICD-11 als neue Herausforderung
Grundsätzliches: Inzwischen ist die elfte Version der «Internationalen Klassifikation der Krankheiten» beschlossen. Die ICD-11 soll im Januar 2022 in Kraft treten. Es handelt sich um die erste Neufassung seit 30 Jahren. Sie listet rund 55.000 Krankheiten, Symptome und Verletzungsursachen auf, wobei viele Veränderungen auch psychische Störungen betreffen. Nicht wenige dieser Änderungen sind umstritten.172 Bei den im Strafrecht stark dominierenden Persönlichkeitsstörungen wird aus einer kategorialen Klassifikation von Differentialtypen eine weitgehend dimensionale Klassifikation vorgesehen, die im Falle der Erfüllung der allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung drei Schweregrade unterscheidet und zur näheren Beschreibung fünf Persönlichkeitsdomänen heranzieht. Angestrebt wird ein höherer Systematisierungsgrad, indem dieser sich an Funktionsbeeinträchtigungen des Selbst und der interpersonellen Beziehungsgestaltung orientiert, Symptome bezüglich der Emotionalität, der Kognition und des Verhaltens spezifiziert und schliesslich die psychosozialen Auswirkungen, also in welchem Masse die Probleme die verschiedenen situativen Kontexte durchzieht, bewertet. Diese Thematisierung des Schweregrades einer Störung wurde in der ICD-10 vermisst, was zu Kritik führte.173
Zu den drei Schweregraden einer Persönlichkeitsstörung:
Die leichte Persönlichkeitsstörung wird mit Funktionsbeeinträchtigen beschrieben, die weder bezüglich des Selbstfunktionsniveaus noch des interpersonellen Funktionsniveaus 76 alle Lebensbereiche betreffen. Auch ist eine leichte Persönlichkeitsstörung mit Symptomen verbunden, die eine entweder rigide oder labile Emotionalität widerspiegeln, die Über- oder Unterkontrolle von Verhaltensimpulsen sowie unflexible, ineffektive Bewältigungsmechanismen beschreiben, die zwar zu persönlichem Leiden aber nicht zu nachhaltiger Lebensuntüchtigkeit führen.
Bei einem mässigen Schweregrad einer Persönlichkeitsstörung ist das Selbstfunktionsniveau gravierender beeinträchtigt, sei es aufgrund eines rigiden, inkonsistenten oder instabilen Selbstbildes oder/und einem mangelnden, überhöhten oder rasch wechselnden Selbstwertgefühls. Weiter finden sich mal-adaptive Ausformungen interpersoneller Funktionen, die sich in der internalisierenden Variante als unterwürfig, abhängig oder vermeidend oder in der externalisierenden Form als konflikthaft und aggressiv darstellen. Auch auf der Symptomebene wird eine breite Palette von emotionalen, kognitiven und behavioralen Manifestationen beschrieben, die von Emotionsvermeidung und -unterdrückung bis hin zu Ärgerausbrüchen, von mangelnder kognitiver und emotionaler Empathie bis hin zur Überfürsorglichkeit und Selbstaufgabe sowie von umschriebenem Realitätsverlust und dissoziativem Erleben handeln.
Die schwere Persönlichkeitsstörung meint ein überaus rigides oder instabiles Selbstbild oder ein solches, das von Selbsthass, Exzentrizismus oder Grandiosität bestimmt ist. Zwischenmenschliche Beziehungen von Patienten mit schwerer Persönlichkeitsstörung können sich als überaus rarifiziert oder fehlend, aber auch als extrem einseitig, oberflächlich oder gewalttätig darstellen. Ihre Emotionalität kann hochgradig eingeschränkt oder ungesteuert, expressiv sein, sie können Psychose-ähnliche Über-zeugungen aufweisen und schweres selbstschädigendes Verhalten, aber auch aggressives oder gar sadistisches Verhalten zeigen. Neben einer umfassenden Lebensuntüchtigkeit ist die schwere Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägtem Leiden oder völliger Indifferenz der sozialen Welt gegenüber verbunden.
Kritische Bemerkungen aus der Sicht der Justiz: Es bleibt abzuwarten, nach welchen Kriterien die fraglichen Diagnosen vorgenommen werden und insbesondere welche Faktoren für die Bestimmung des Schweregrades einer Persönlichkeitsstörung relevant sein werden. Hier ist noch alles offen. Es wird zu beobachten sein, wie die empirisch noch zu bestimmenden diagnostischen Schwellenwerte, deren Verwendung als unabdingbar erachtet wird, definiert werden. In der psychiatrischen Literatur wird bereits kritisch darauf hingewiesen, dass zu viel subjektiver Interpretationsspielraum bestehe.174 Unter Fachleuten wird die Meinung vertreten, die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung werde in Zukunft vermehrt vergeben. Sicherlich entbinden psychiatrische Erkenntnisse die Justiz nicht von der Prüfung der Frage, ob Kriterien für eine Quantifizierung einer psychischen Störung auch für die Rechtsanwendung überzeugen. Es ist in Erinnerung zu rufen, dass freiheitsentziehende Massnahmen als Eingriffe in die Grundrechte in einem funktionierenden Rechtsstaat nur unter strengen Voraussetzungen zulässig sind. Diesem Grundsatz hat der Gesetzgeber anlässlich der letzten umfassenden Revision des Strafgesetzbuchs 2006 Rechnung getragen, indem die Anordnung einer therapeutischen Massnahme nicht an das Bestehen einer wie auch immer gearteten psychischen Problematik, sondern explizit an eine psychische Störung gebunden wurde. Das macht auch Sinn, denn in der Praxis dauern solche Freiheitsentzüge sehr oft deutlich länger als schuldangemessene Strafen. Darüber hinaus ist dem Schweregrad einer Störung besondere Beachtung zu schenken. Mit Blick auf die weitreichenden Konsequenzen der Bejahung einer rechtlich relevanten psychischen Störung ist hier Zurückhaltung geboten. Psychiatrische Sachverständige haben behutsam mit den 77 entsprechenden Kriterien umzugehen und Justizorgane haben auf deren sachgerechte Diskussion in den Gutachten zu bestehen. Entsprechend tun Abgrenzungen und Einschränkungen Not, soll nicht das Massnahmenrecht das Sanktionenrecht noch weiter dominieren und diese Art von Sanktion nicht noch mehr aufgebläht werden. Jedenfalls steht fest, dass die unter dem Regime der ICD-10 eingeleitete fundierte juristische Thematisierung der Anforderungen an den rechtsgenüglichen Schweregrad einer psychischen Störung mit dem Inkrafttreten der ICD-11 keineswegs unterbunden wird. Die neu eingeführte Stellungahme der Psychiater zu einer Quantifizierung einer Persönlichkeitsstörung entbindet die Justiz nicht von einer verantwortungsvollen Teilnahme an dieser Diskussion.
Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht. Allgemeiner Teil II: Strafen und Masnahmen, 2. Aufl, Bern 2006, § 1 N 72 ff.; 24 ff.; BGE 126 I 177; 125 II 524; 121 IV 156.
Vgl. etwa im Zusammenhang mit der Revision des AT StGB von 2007 BBl 1999 S. 1979, S. 2077; beachte auch BGE 127 IV 154 E. 3c für die Begründung einer Zwangsbehandlung; kritisch dazu Godenzi, Die «schwere psychische Störung» - grundsätzliche Bemerkungen, in: Heer/Habermeyer/Bernard (Hrsg.), Tagungsband des Forums Justiz & Psychiatrie, Bern 2019, 20 ff.
BGE 141 IV 236 E. 3.7; 124 IV 246 E. 3b; BGer vom 02.08.2018, 6B_564/2018, E. 2.5.2.
Germann, Die späte Erfindung der Zweispurigkeit, Carl Stooss und die Entstehung der Zweispurigkeit von Strafen und Massnahmen im schweizerischen Strafrecht - eine historisch-kritische Retrospektive, ZStrR 2009, 160 m.H.
RGBl. I 1933 S. 995.
Heer/Habermeyer, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Auflage, Basel 2019, Art. 64 N 60 ff.
Noll, Rückfallgefahr bei Gewalt- und Sexualstraftätern, Bern 2015.
So etwa im Zusammenhang mit der PCL-R von Robert Hare Mokros, Prognoseinstrumente, insbesondere PCL_R: Eine Erläuterung für Angehörige der Justiz, in: Heer/Habermeyer/Bernard (Hrsg.), Tagungsband des Forums Justiz & Psychiatrie, Bern 2017, 87 ff.
Beachte etwa Heer, Juristische Anforderungen an psychiatrische Gutachten, in: Heer/Habermeyer/Bernard (Hrsg.), Tagungsband des Forums Justiz & Psychiatrie, 2017; illustrativ für die strafprozessuale Denkweise BGer vom 19.07.2018, 6B_582/2017, E. 2.2.5.
Beachte zusammenfassend diese Rechtsprechung in BGer vom 19.07.2018, 6B_582/2017, E. 2.2.3.
BGer vom 10.08.2008, 6B_539/2008.
BGer vom 04.12.2015, 6B_424/2015, E. 3.3; Boetticher et al., Zum richtigen Umgang mit Prognoseinstrumenten, NStZ 2009, 479 f.; Müller/Nedopil, Forensische Psychiatrie, 5. Auflage, Stuttgart 2017, 367.
BGer vom 19.07.2018, 6B_582/2017, E. 2.2.3; BGer vom 04.12.2015, 6B_424/2015, E. 3.3; BGer vom 09.04.2008, 6B_772/2007, E. 4, je m.H. u.a. auf forensisch-psychiatrische Lehrmeinungen.
Müller/Nedopil (Fn. 12), 357 ff.
Zu Einzelheiten beachte Heer/Habermeyer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 64 N 60 ff.
Vgl. etwa BGer vom 17.05.2017, 6B_409/2017, E. 1.2.2.
Vgl. statt vieler BGE 140 IV 1 E. 3.2.4; 137 IV 59 E. 6.3; 134 IV 315.
Vgl. u.a. BGer vom 23.09.2016, 6B_218/2016 m.H.
BGer vom 21.05.201, 6B_237/2019, E. 2.3.1.; BGer vom 02.08.2018, 6B_56/2018, E. 4.2.2 (unveröffentlichter Teil von BGE 145 IV 65).
BGer vom 23.09.2016, 6B_218/2016, E. 3.3.1; BGer vom 30.01.2012, 6B_487/2011, E. 3.7.5.
Beachte die Zahlen gemäss Jürgen Müller/Nedopil (Fn. 12), 375 ff.
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/tabellen.assetdetail.3524331.html [08.08.2019].
Zu den Zahlen vgl. auch Queloz, Prise en charge des condamnés souffrant de troubles psychiques: perspectives d’avenir et défis à relever en Suisse, in: Queloz/Senn/Brossard (Hrsg.), Gefängnis als Klinik, prison – asile?, Bern 2008, 105 ff.
Zum Ganzen vgl. die beachtliche Untersuchung von Weber et al., Anordnung und Vollzugstationärer therapeutischer Massnahmen gemäss Art. 59 StGB mit Fokus auf geschlossene Strafanstalten bzw. geschlossene Massnahmeneinrichtungen, Bern 2015 (https://boris.unibe.ch/98447/1/Weber-Schaub-Bumann-Sacher_Studie_Art.-59_2016.05.31.pdf, 31.08.2019).
Dazu eingehend Heer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 65 N 38 ff.
BGer vom 21.12.2009, 6B_629/2009, E.1.2.2.1, E.1.2.4.
BGer vom 21.12.2009, 6B_629/2009, unveröffentlichte E.3.3 von BGE 142 IV 1 mit zahlreichen Hinweisen.
Dazu sehr anschaulich der Bericht «Anstaltsplanung 2013», Version 12.06.2014, der Konkordatskonferenz.
BGE 135 IV 139, 144 f.
BGer vom 25.07.2018, 6B_636/2018.
Zu denken ist etwa an die Erhöhung der Plätze in der JVA Solothurn im Jahre 2018 von 60 auf 100.
Dazu eingehend Übergangsmanagement und Nachsorge: Die wahren Herausforderungen des Massnahmerechts, in: Heer/Habermeyer/Bernhard (Hrsg.), Tagungsband des Forums Justiz & Psychiatrie, Bern 2020, in Bearbeitung.
Bericht «Anstaltsplanung 2013», Version 12.06.2014, der Konkordatskonferenz.
Eingehend dazu Godenzi (Fn 2), 7 ff.
Vorentwürfe von 1993 zum Allgemeinen Teil und zum Dritten Buch des Strafgesetzbuches und zu einem Bundesgesetz über die Jugendstrafrechtspflege; vgl. dazu Bundesamt für Justiz, Bericht zur Revision des Allgemeinen Teils und des Dritten Buches des Strafgesetzbuches und zu einem Bundesgesetz über die Jugendstrafrechtspflege, BJ 1993, 79 ff. (https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/sicherheit/gesetzgebung/archiv/stgb-at/vorentw-d.pdf, [01.04.2019]).
Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 II, 2076.
BGer vom 15.08.2017, 6B_290/2016, E. 2.3.3; BGer vom 06.03.2014, 6B_926/2013, E. 3.2.
Dazu EJPD, Bericht der Arbeitsgruppe «Verwahrung» zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches in der Fassung vom 13.12.2002 betreffend die Umsetzung von Artikel 123a BV über die lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter und einzelne nachträgliche Korrekturen am neuen Massnahmenrecht, 15. Juli 2004, Art. 59 Abs. 1 VE.
Zu dem erforderlichen interdisziplinären Dialog und der Notwendigkeit von Kriterienkatalogen beachte die grundsätzlichen Überlegungen von Habermeyer, Ein Beitrag zur Qualitätssicherung in der Forensischen Psychiatrie, in: Schneider (Hrsg.), Entwicklungen der Psychiatrie, Berlin etc. 2006, 375 ff.
Zur Problematisierung dieses Phänomens Andreas, Der Begriff der psychischen Störung in der Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenarzt 2015, 7 f.
Sehr anschaulich dazu De Tribolet Hardy et al., Forensische Psychiatrie ohne Diagnose, Forens Psychiatr Psychol Kriminol, 165.
Urbaniok et al., Die «psychische Störung» im Massnahmenrecht aus forensisch-psychiatrischer Sicht, AJP 2016, 1671 ff.; Urbaniok, Frank Urbaniok fordert, dass Straftäter besser beurteilt werden. Er weiss wie, Gastkommentar in der NZZ am Sonntag, 14.04.2018.
Dressing/Habermeyer, Persönlichkeitsstörungen, in: Dressing/Habermeyer (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, München 2015, 294
Dazu und zu verschiedenen Versuchen der Definition von Krankheit beachte Dittmann, «Psychische Störungen» im Therapieunterbringungsgesetz (THUG) und im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4.5.2011 – Versuch einer Klärung, in: Müller et al. (Hrsg.), Sicherungsverwahrung – wissenschaftliche Basis und Positionsbestimmung. Was folgt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4.5.2011?, Berlin 2012, 28 ff.
Habermeyer et. al., Der Begriff der schweren psychischen Störung: Eine alternativlose Höhenmarke, in: Heer/Habermeyer/Bernhard (Hrsg.), Tagungsband des Forums Justiz &Psychiatrie, Bern 2019, 43 ff.
WHO, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 26; Müller/Nedopil (Fn. 12), 213 ff.; Dressing/Habermeyer (Fn 45), 302; Heer/Habermeyer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 59 N 25 ff., insbes. N 30h und i.
Näheres dazu bei Heer/Habermeyer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 59 N 30a.
Schreiber/Rosenau, Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung, in: Dressing/Habermeyer (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, München 2015, 99.
Heer/Habermeyer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 59 N 29.
So bereits, allerdings wenig beachtet, BGE 127 IV 154 E. 3a mit der Betonung, Massnahmen seien auf erheblich «schwerst psychisch gestörte» Straftäter ausgerichtet. Vgl. Dressing /Foerster, Forensisch-psychiatrische Untersuchung, in: Dressing/Habermeyer (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, München 2015, 23; Foerster/Dressing, Die Erstattung des Gutachtens, in: Dressing/Habermeyer (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, München 2015, 65.
Sass/Habermeyer, Die Begutachtung von Persönlichkeitsstörungen aus psychopathologischer Sicht, Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2007, 159; Kröber, «Psychische Störung» als Begründung für staatliche Eingriffe in Grundrechte des Individuums, Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2011, 242; in Deutschland BGH, 21. 01. 2004, 1 StrR 346/03, E. 3b.
Sass, Forensische Erheblichkeit seelischer Störungen im psychopathologischen Referenzsystem, in: Schütz/Kaatsch/Thomsen (Hrsg.), Medizinrecht — Psychopathologie — Rechtsmedizin, FS-Schewe, Berlin u.a. 1991, 272 ff.; Sass/Habermeyer (Fn. 53), 158 f.; Morgenstern, Krank – gestört – gefährlich: Wer fällt unter § 1 Therapieunterbringungsgesetz und Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK? Zugleich Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 15.9.2011 – 2 BvR 1516/11, ZIS 2011, 978; Dittmann, (Fn. 46), 34 in Bezug auf dissoziale Persönlichkeitstörungen.
Vgl. dazu Sass, Ein psychopathologisches Referenzsystem für die Beurteilung der Schuldfähigkeit, Forensia 1985,33-42; Schreiber/Rosenau (Fn. 50), 105; vgl. auch BGH, 16.12.1998, 5 StR 407.
Kröber, Konzepte zur Beurteilung der «schweren anderen seelischen Abartigkeit», Nervenarzt 1995, 532 ff.
Zum Ganzen Dressing/Habermeyer (Fn 45), 294.
Vgl. bspw. EGMR, 28.01.2013, i. S. Glien vs. Deutschland, Nr. 7345/12, §§ 75, 85 und 90.
Lehner, Das Kriterium der schweren psychischen Störung – Die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, in: Heer/Habermeyer/Bernard (Hrsg.), Tagungsband des Forums Justiz & Psychiatrie, Bern 2019, 85 ff.
Habermeyer, Typische Fallstricke bei der Begutachtung von Persönlichkeitsstörungen, Persönlichkeitsstörungen - Theorie und Therapie 2004, 85 ff.; Habermeyer/Sass, Die Massregel der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB: Grundlagen und Differentialindikation gegenüber der Massregel gemäss § 63 StGB, Nervenarzt 2004, 1061-1067.
BGer vom 07.10.2010, 6B_681/2010, E. 4.1; BGer vom 22.03.2010, 6B_52/2010, E. 2.3.
Bommer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 19 N 26; vgl. auch Godenzi (Fn. 2), 22 f.
BGE 140 IV 49 E. 2.4.1.
Näheres dazu bei Boetticher et al., Mindestanforderungen bei Schuldfähigkeitsgutachten, Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2007, 5 oder NStZ 2005, 61 f.
Heer/Habermeyer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 59 N 30i.
Kröber (Fn. 53), 239 f.
Briken, Paraphile Störungen und Sexualdelinquenz – Geschlechtsinkongruenz/-dysphorie – sexuelle Funktionsstörungen, in: Dressing/Habermeyer (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, München 2015, 311.
Briken (Fn. 67), 308.
Heer/Habermeyer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 59 N 36b.
Müller/Nedopil (Fn. 12), 239 ff.
Kröber (Fn. 53), 239.
Heer/Habermeyer, BSK StGB I (Fn. 6), Art. 59 N 30g.
Dazu eingehend Nitschke et al., Forensisch-psychiatrische Begutachtung bei Pädophilie, Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2011, 537 f.
Briken (Fn. 67),317.
Boetticher et al. (Fn. 64), 10.
Bspw. wird die Spielsucht (6C50) erstmals als eigene Diagnose unter Impulskontrollstörungen gelistet. Der Katalog differenziert zwischen einer Online- (6C50.0), einer Offline- (6C50.1) sowie einer nicht näher bestimmten Spielsucht (6C50.2). Im ICD-10-Katalog ist die Definition auf das Glücksspiel begrenzt (F63.0, pathologisches Spielen). Im Vordergrund stehen der Kontrollverlust sowie eine zunehmende Fokussierung auf das Spielen, das andere Interessen verdrängt. Hinzu kommen eine Intensivierung trotz negativer Konsequenzen und eine erhebliche Beeinträchtigung des sozialen Funktionsniveaus. Weiter hervorzuheben ist neu das zwanghafte Sexualverhalten (6C72), das jetzt ebenfalls eine eigenständige Impulskontrollstörung darstellt. Den Betroffenen gelingt es nicht, ihr sexuelles Verlangen zu zügeln, sie machen Sexualität zu einem zentralen Fokus und vernachlässigen andere Interessen, können auch dann nicht davon ablassen, wenn es ihnen schadet, Beziehungen zu Bruch gehen, das Sozialleben leidet und sie sich finanziell ruinieren. Übermässiger Pornokonsum oder Telefonsex zählen ebenfalls dazu. Die Störung muss mindestens sechs Monate persistieren und zu erheblichem Stress im Umfeld führen. Stress, der nur durch eine moralische Bewertung oder Ablehnung eines bestimmten Sexualverhaltens entsteht, zählt jedoch ausdrücklich nicht dazu. Davon abzugrenzen sind vor allem paraphile Störungen (6D30-36); siehe Ärztezeitung online, 23.03.2019, https://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/neuro-psychiatrische_krankheiten/suchtkrankheiten/article/988706/who-neuen-krankheiten-icd-11.html, [01.09.2019].
S. C. Herpertz, Neue Wege der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen in ICD-11, Fortschr Neurol Psychiatr 2018, 153.
Zimmermann, Paradigmenwechsel in der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen, Die neuen Modelle in DSM-5 und ICD-11, Psychotherapie im Dialog 2014, 1 ff.