«Nicht die Schwere, nur die Wahrscheinlichkeit der Strafe schreckt ab…»
Martin Killias
Es gibt «ewige» Themen, gerade im Strafrecht, die der Schreibende oft und gerne mit dem Jubilar diskutiert hat, zumal er ihm viele Anregungen zu danken hat. Die Frage nach der Wirkung der Strafe gehört dazu. Seit Protagoras der Strafe einen Zweck – nämlich die Abschreckung – zugeschrieben hat, wurde diese zum Forschungsthema. Der Schreibende möchte versuchen, sie kurz und knapp zu beantworten, und dies fast ohne Fussnotenapparat. Dem Verfasser hilft dabei der Status des Emeritierten, der ihn vom akademischen Legitimationsdruck weitgehend enthebt. Endlich, so möchte man ausrufen, darf man mal schreiben, was Sache ist!
Die Wirkung vermehrter Kontrollen
Kontrollen lassen sich intensivieren. Dies erleichtert Tests der Wirkung erhöhter Entdeckungswahrscheinlichkeiten ungemein. Forscher können Polizeichefs, Staatsanwälte oder wen auch immer, der über die Ressourcen des Strafverfolgungsapparats verfügt, überzeugen, eine Verstärkung oder – ausnahmsweise – eine Verringerung der Kontrollen auf ihre Wirkung hin zu testen.
Die Ergebnisse zeigen überwiegend wenn auch nicht immer, eine gewisse Wirkung im intendierten Sinn. Interessant sind vor allem die Ausnahmen, wo es nicht «geklappt» hat. Es sind dies meistens Situationen, in welchen die Kontrollintensität zwar erhöht wurde, aber nicht in einem Masse, das für gewöhnlich Sterbliche wahrnehmbar geworden wäre. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Parkieren an unerlaubter Stelle mit einer Busse geahndet wird? Ist dieses Risiko seit Ende der Ferienzeit gestiegen, nachdem die Polizei wieder ihren vollen Bestand erreicht hat? Hat das Risiko, nach einem etwas gar fröhlichen Abend in eine Verkehrskontrolle zu geraten, seit der letzten Ankündigung des Polizeikommandanten über entsprechend erhöhte Prioritäten tatsächlich zugenommen? All dies können wir gewöhnlich ebenso wenig wissen, wie ob das Risiko, sich bei ungeschütztem Verkehr oder unvorsichtigem Verhalten in anderen Lebensbereichen mit einer gefährlichen Krankheit anzustecken oder einen Unfall zu erleiden, in jüngerer Zeit zu- oder abgenommen hat. Wahrnehmen können wir dies alles nur, wenn die entsprechenden Risiken sich drastisch – um das fünf- oder zehnfache – erhöht haben.
Die erhöhte Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, wirkt somit nach den verfügbaren empirischen Studien tatsächlich sehr wohl verhaltenssteuernd, aber eben nur, wenn die Veränderung massiv ausfällt, so dass wir sie wirklich wahrnehmen können, beispielsweise weil zunehmend Unglücksraben aus dem Bekanntenkreis ungute Erfahrungen gesammelt und davon berichtet haben. Damit dies geschieht, müssen aber die entsprechenden Risiken an sich schon sehr relevant gewesen sein. Für alle, die mit der Kontrolle unseres Verhaltens betraut sind, bedeutet dies, dass 302 nachhaltige Erfolge auf diesem Gebiet nur zu erzielen sind, wenn die Risiken so stark erhöht werden, so dass ihre Veränderung wahrnehmbar wird und daher abschreckend zu wirken vermag. Die schlechte Nachricht wäre somit, dass keine Gesellschaft sich eine derartige Erhöhung der Kontrollintensität auf die Dauer leisten kann. Nirgendwo kann man die Ressourcen der Polizei derart erhöhen, ganz zu schweigen von der Unwahrscheinlichkeit, dass eine derartige Kontrollintensität von den Betroffenen akzeptiert würde.
Wirkungslose Strafe?
Noch Montesquieu verliess sich wie frühere Denker während fast zweitausend Jahren ganz allein auf die Wirkung der Schwere der Strafe, erst Beccaria und Bentham «entdeckten» das Entdeckungsrisiko als entscheidende Variable. Dies lag an der Unmöglichkeit vormoderner Staaten, über Verstärkung oder veränderte Prioritäten des Strafverfolgungsapparates die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung überhaupt in relevantem Ausmass zu verändern. Diese Variable blieb bis Ende des 18. Jahrhunderts ausserhalb des Einflussbereichs der «policy makers».
Seither betrachtete man die Schwere der Strafe zunehmend kritisch. Unbestritten ist das Bestehen eines Interaktionseffekts zwischen Schwere und Wahrscheinlichkeit der Strafe, d.h. auch schwerste Strafen wirken nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit ihrer Verhängung auf extrem tiefem Niveau verharrt – wie umgekehrt auch eine extreme Erhöhung des Entdeckungsrisikos kaum viel hilft, wenn man auch im Fall, dass man erwischt wird, mit einer lächerlichen Strafe zu rechnen hat, also beispielsweise die Parkbusse weniger als die Gebühr des Parkhauses beträgt.
All dies wird auch von Kritikern des Strafrechts kaum bestritten, doch wie steht es nun mit der Schwere der Strafe? Das Problem ist, dass die Wirkungen der Wahrscheinlichkeit wie auch der Schwere der Bestrafung nicht linear sind (zu diesem Thema liegen zahlreiche zumeist ältere Studien vor, die hier zu zitieren den Apparat exzessiv umfangreich werden liesse. Daher sei gestattet, hier zusammenfassend auf ein Lehrbuch zu verweisen: Killias/Aebi/Kuhn, Précis de criminologie, 4. Aufl., Bern 2019, Rz. 618), sondern einer logarithmischen Logik folgen: auf extrem tiefem Niveau wird auch eine massive Erhöhung der «Dosis» kaum wahrgenommen und wirkt daher auch nicht abschreckend, wogegen bei sehr hoher Wahrscheinlichkeit oder Schwere der Risiken eine Erhöhung derselben kaum mehr das Verhalten der Menschen beeinflusst.
Die nicht-linearen Effekte veränderter Risiken erklären wohl, weshalb sehr schwere Strafen – und im Extremfall die Todesstrafe – kaum messbare Abschreckungswirkungen erzielen. Denn sie werden in aller Regel für Verbrechen eingeführt, die bereits zuvor mit sehr schweren Strafen geahndet wurden. Gegenüber einer sehr langen Freiheitsstrafe erzeugt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe genau aus diesem Grund kaum noch eine zusätzliche Abschreckungswirkung.
Für die Forschung liegt die Schwierigkeit darin, Situationen zu finden, in welchen die Schwere der drohenden Risiken – der Bestrafung, eines Unfalls oder einer Erkrankung – sich sehr massiv verändert. Im Vergleich zur Erhöhung des Entdeckungsrisikos, welche leicht zu Forschungszwecken herbeigeführt und in ihren Wirkungen beobachtet werden kann, sind Veränderungen der Strafdrohung in einem relevanten Ausmass – also von nahezu «nichts» bis zu sehr substanziellen Sanktionen – extrem selten, da kaum forschungshalber veränderbar. Das natürliche Experiment in Italien mit einem Amnestiegesetz im Jahre 2006 oder die Verdoppelung der Ordnungsbussen in der Schweiz gehören zu den Ausnahmen. Vor allem das italienische Experiment ist höchst aufschlussreich, wurden doch damals an einem Tag – am 1. August 2006 – rund 22’000 Gefangene entlassen, und zwar durch eine lineare Reduktion der noch zu verbüssenden Zeit um einheitlich drei Jahre. Wer also am Stichtag nicht mehr als 303 drei Jahre (noch) zu verbüssen hatte, wurde augenblicklich freigelassen – mit der Auflage, im Falle einer erneuten Verhaftung unwiderruflich die «geschenkte» Zeit absitzen zu müssen. Die Länge der «geschenkten» Zeit und mithin das Risiko, das Entlassene liefen, war somit extrem ungleich, nämlich zwischen einem Tag und drei Jahren. Wie die Auswertung dreier Forscher (Drago/Galbiati/Vertova, The deterrent effect of prison. Evidence from a natural experiment, Journal of Political Economy 2009, 257 ff.) zeigen, korrelierte die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verhaftung sehr stark mit der Länge der «geschenkten» Zeit: wer viel zu verlieren hatte, wurde wesentlich seltener rückfällig. Besonders aussagekräftig ist dieses Experiment, weil Entlassene mit wenig oder viel «geschenkter» Zeit sich in ihrem Persönlichkeitsprofil nicht systematisch unterschieden, wie dies bei Vergleichen zwischen Gefangenen mit kurzen oder langen Strafen sonst regelmässig «störend» ins Gewicht fällt.
Andere Beispiele finden sich vor allem ausserhalb des Strafrechts. So hat etwa die Angst vor AIDS als schwerer und unheilbarer Krankheit zwar kaum die Häufigkeit «spontaner» Sexualkontakte vermindert, wohl aber die Verwendung von Präservativen massiv erhöht – dies wenigstens Mitte der 1980er Jahre, als die Folgen dieser Krankheit noch kaum zu beherrschen waren (belegt wurde dies namentlich durch eine bemerkenswerte Evaluation der Anti-AIDS-Kampagnen des schweizerischen Bundesamts für Gesundheit, zit. in Killias/Aebi/Kuhn, a.a.O., Rz 616). Andere Beispiele, die weniger gut evaluiert sind, wäre etwa die auf entsprechenden Schildern kommunizierte Drohung, irregulär geparkte Autos würden abgeschleppt. Obwohl merkwürdigerweise offenbar nie evaluiert, hat diese Drohung vermutlich wesentlich stärkere Wirkungen als gelegentlich vorbeigehende Polizeibeamte, deren Busszettel notfalls in Kauf genommen werden. Umgekehrt haben die drastischen Mindeststrafen für «Raser» in der Schweiz dazu geführt, dass Schnellfahrer von südlich des Rheins das Potenzial ihrer Fahrzeuge vermehrt auf deutschen Strassen zu testen pflegen. Auch hierzu liegen offenbar nur anekdotische Belege vor.
Die Unmöglichkeit, relevante Zusammenhänge zu erforschen
Dass die grosse Mehrheit der Forschenden der Ansicht zuneigt, die Erhöhung der Entdeckungswahrscheinlichkeit sei wirksamer als die Verschärfung der Strafen, liegt in erster Linie wohl daran, dass es in der Forschungspraxis viel einfacher ist, die Intensität von Kontrollen zu erhöhen oder zu vermindern und die Auswirkungen zu beobachten, als Veränderungen der Strafdrohungen zu untersuchen. Was aber nicht erforscht werden kann, gilt in der üblichen akademischen Diktion bald einmal als «nicht belegt» und damit sehr bald auch als inexistent. Was man nicht sieht, ist deswegen aber noch lange nicht irreal.
Ironischerweise lässt sich dies wiederum leichter an Beispielen zur Erhöhung des Entdeckungsrisikos belegen. Zwei scheinen dazu besonders illustrativ. Das eine betrifft die Wirkung der Video-Überwachung öffentlicher Plätze. Die «Mainstream»-Meinung ist, dass Kameras Straftaten (namentlich gegen die Person) nicht verringern. Wie ein emeritierter Notfallmediziner aus England nachweisen konnte, hat die Installation von Kameras jedoch die Sichtbarkeit von Straftaten im wortwörtlichen Sinne erhöht – und daher zu einer stark zunehmenden Registrierung derselben geführt (Sivarajasingam/Shepherd/Matthews, Effect of urban closed circuit television on assault injury and violence detection, Injury Prevention 2003, 312 ff.). Mit dem Ergebnis, dass per Saldo in der Kriminalstatistik eine Zunahme oder zumindest keine Abnahme resultierte, obwohl andere Indikatoren – etwa Zahlen aus Notfallkliniken – einen ganz anderen Trend nahelegen. Einen sehr ähnlichen Effekt haben unlängst die Autoren eines kontrollierten Experiments in St. Louis (Missouri) nachweisen können (Kochel/Weisburd, The Impact of Hot Spots Policing on Collective Efficacy: Findings from a Randomized Field Trial, Justice Quaterly 2018): auch 304 hier haben Programme zur besseren Bekämpfung von «Hot Spots» durch die Polizei zu einer starken Zunahme der Anzeigebereitschaft geführt – wiederum mit dem Ergebnis, dass der Effekt solcher Massnahmen auf die Kriminalität selber fälschlicherweise vernachlässigbar erscheint, wenn man allein auf offizielle Daten abstellt.
Ebenso sind Sättigungseffekte zu berücksichtigen. So führte etwa die flächendeckende Einführung der DNA-Datenbank in der Schweiz ausgerechnet bei den Tötungsdelikten zu keiner relevanten Erhöhung der Aufklärungsrate. Dies erklärt sich wohl daraus, dass bei Kapitalverbrechen die Aufklärungsrate immer schon recht hoch lag, dies besonders in Westeuropa mit einem hohen Anteil an Tötungsdelikten im sozialen Nahraum. Die einzige Ausnahme bildeten Morde im (vor allem homosexuellen) Prostitutionsmilieu, die früher – vor Einführung der DNA-Datenbank – häufig unaufgeklärt blieben (Bänziger/Killias, Unsolved homicides in Switzerland: Patterns and explanations, European Journal of Criminology 2014, 619 ff.). Bei Massendelikten, die kaum je viel öffentliche Aufmerksamkeit erregen, nichts desto trotz aber für die breite Mehrheit der Bevölkerung die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigen können, deuten die Ergebnisse einer Auswertung für das Bundesparlament (Killias et al., DNA-Analysen in Strafverfahren: Entwicklung, Umfang und Wirkungen, Bericht zuhanden der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle, 2019, abrufbar unter https://www.parlament.ch/de/organe/kommissionen/parlamentarische-verwaltungskontrolle-pvk) auf eine deutliche Erhöhung der Aufklärungsraten hin. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass eine in absoluten Begriffen moderate Erhöhung – typischerweise auf etwa 15 Prozent bei Sachbeschädigung und anderen Massendelikten – in relativer Hinsicht sehr massiv ausfallen kann, wenn diese zuvor – wie üblich – bei rund 5 Prozent lag. Wie ausländische, d.h. vor allem englische (Home Office, DNA Expansion Programme 2000-2005: Reporting achievement, Forensic Science and Pathology Unit, 2005), dänische (Tegner Anker/Doleac/Landersö, The effects of DNA databases on the deterrence and detevtion of offenders, Rockwool Foundation Research Unit, Copenhagen 2017) und amerikanische (Doleac, The Effects of DNA Databases on Crime, American Economic Journal 2017, 165 ff.) Studien (darunter ein sehr bemerkenswertes randomisiertes Experiment [Roman et al., The DNA field experiment: a randomized trial of the cost-effectiveness of using DNA to solve property crimes, Journal of Experimental Criminology 2009, 345 ff.]) zeigen, war diese Erhöhung sehr wohl geeignet, Delinquenten zu beeinflussen, sei es indem sie kriminelle Karriere nach einer Registrierung in der DNA-Datenbank beendeten oder aber in benachbarte Bezirke mit (damals) fehlendem Zugang zur DNA-Datenbank auswichen. Einige Forscher sehen den in vielen westlichen Ländern feststellbaren Kriminalitätsrückgang daher vor allem als Folge des stark ausgeweiteten Einsatzes von DNA-Auswertungen von Tatortspuren.
Ein Wort ad personam
Dieser Beitrag ist kurz und bescheiden, auch und gerade was die Literaturbelege anbelangt. Der Jubilar, der immer mit viel Humor und Selbstironie gerade auch an «seriöse» Themen heranging, möge dem Verfasser dies verzeihen. Runde Geburtstage sollen dafür da sein, sich am Erreichten zu freuen und alles andere zu vergessen. Auch damit das unvermeidliche Älterwerden etwas von seiner Abschreckungswirkung verliert.