Grenzüberschreitender strafrechtlicher Menschenrechtsschutz auf Konzernebene?
Nadine Zurkinden
«Die Internationalisierung des Wirtschaftsstrafrechts und die schweizerische Kriminalpolitik» lautet der Titel eines Aufsatzes von Christian Schwarzenegger (ZSR 2008 II 399 ff.), den er vor über zehn Jahren geschrieben hat, als die Verfasserin dieser Zeilen noch Assistentin und Doktorandin bei ihm war. Das Thema ist nach wie vor aktuell.
Ein Beispielfall
In jüngerer Zeit stellt sich die Frage, ob grenzüberschreitender Menschenrechtsschutz durch Schweizer Strafrecht gewährleistet werden kann oder soll, wenn in global tätigen Konzernen, deren Konzernobergesellschaft ihren Sitz in der Schweiz hat, mutmasslich Menschenrechtsverletzungen verursacht wurden. Mediale Aufmerksamkeit hat insbesondere der folgende Fall erhalten: Der kolumbianische Gewerkschafter Luciano Romero, ehemaliger Angestellter der Nestlé-Tochtergesellschaft Cicolac, wurde im September 2005 durch kolumbianische Paramilitärs entführt und getötet. Im März 2012 erstatteten seine Witwe (Privatklägerin) und die Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zug gegen den damaligen Verwaltungsratspräsidenten und vier weitere Personen, die alle im Zeitpunkt der Ereignisse auf verschiedenen Stufen eine leitende Position innerhalb der Nestlé AG innehatten, Strafanzeige. Sie warfen ihnen im Wesentlichen fahrlässige Tötung durch Unterlassen vor, weil sie nichts unternommen hätten, um den Tod von Luciano Romero zu verhindern. Eventualiter warfen sie der Nestlé AG vor, sich des Art. 102 Abs. 1 StGB (Strafbarkeit des Unternehmens) strafbar gemacht zu haben. Laut der Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt, die die Untersuchung übernommen hatte, waren die Straftaten allerdings bereits verjährt. Die deshalb erlassene Nichtanhandnahmeverfügung wurde vom Waadtländer Kantonsgericht und vom Bundesgericht gestützt (BGer vom 21.06.2014, 6B_7/2014 = Pra 2014 Nr. 115. Besprochen u.a. durch Macaluso/Garbarski, fp 2014, 322 ff.). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist auf den Fall nicht eingetreten. Der Verein humanrights.ch/MERS kommentierte: «Die nun erfolgten Entscheide der Schweizer Behörden und des EGMR bekräftigen den Eindruck, dass die bestehenden rechtlichen Regeln zu wenig verfangen. Aus diesem Grund wurde in der Schweiz die «Konzernverantwortungsinitiative» lanciert.» (https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/aussenpolitik/aussenwirtschaftspolitik/tnc/praezedenzfall-klage-nestle-schweiz, besucht am 10.09.2019).
Dieser Beitrag geht am Beispiel dieses Falls der Frage nach, wie er strafrechtlich zu beurteilen gewesen wäre, wenn nicht bereits die Verjährung eingetreten wäre, und ob es aus strafrechtlicher Sicht etwas ändern würde, wenn die Konzernverantwortungsinitiative (KOVI) angenommen und sich ein vergleichbarer Fall nochmals ereignen würde. Der Autorin liegen die Verfahrensakten nicht vor, so dass sich die Ausführungen auf die Informationen beschränken, die aus den Medien, dem akademischen Schrifttum (etwa Forstmoser, Schutz der 194 Menschenrechte – eine Pflicht für multinationale Unternehmen?, in: Cavallo et al. [Hrsg.], Liber amicorum für Andreas Donatsch, Zürich 2012, 703 ff.) und dem Bundesgerichtsurteil bekannt sind.
Indirekte Grundrechtswirkung unter Privaten
Die KOVI bezweckt grenzüberschreitenden Menschenrechtsschutz. Im vorliegenden Fall stand der Vorwurf im Raum, die Nestlé AG bzw. ihre Leitungspersonen in der Schweiz seien ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nicht nachgekommen. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass Grundrechte auch unter Privaten wirksam werden (Art. 35 Abs. 3 BV). In der Bundesverfassung verankerte Grundrechte wirken aber in der Regel nicht unmittelbar unter Privaten, sondern entfalten erst indirekt beispielsweise durch Gesetze Drittwirkung (Waldmann, in: Waldmann/Belser/Epiney [Hrsg.], Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015, Art. 35 N 66 f. Ausnahmen sind z.B. die Lohngleichheit und das Folterverbot: sie haben direkte Drittwirkung. Die Drittwirkung wird aber kontrovers diskutiert. Eine weitergehende Drittwirkung bzw. «Horizontalwirkung» vertritt etwa Schweizer in: Ehrenzeller et al. [Hrsg.], Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Zürich 2014, Art. 35 N 58 ff. m.w.Nw.). Beim Fall Romero steht das Recht auf Leben (Art. 10 BV; Art. 2 EMRK) im Vordergrund. Es wird unter anderem durch die Tötungsdelikte im StGB geschützt.
Anwendbarkeit des Schweizer Strafrechts?
Wird, wie im Fall Romero, das Opfer in einem anderen Land getötet, stellt sich die Frage, ob dennoch Schweizer Strafrecht anwendbar ist. Das Strafanwendungsrecht ist in den Artikeln 3-8 StGB geregelt. Den angezeigten Leitungspersonen wurde fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen. Damit besteht die erste Schwierigkeit des Falles darin, festzustellen, wo die Leitungspersonen pflichtwidrig untätig geblieben sein könnten: in der Schweiz oder in Kolumbien? Falls man auf ein Unterlassen in der Schweiz abstellen kann, ist Schweizer Strafrecht gemäss Art. 3 i.V.m. Art. 8 StGB anwendbar. Zwei der angeklagten Leitungspersonen waren aber zur Tatzeit in Kolumbien tätig bzw. untätig. Auf sie wäre Schweizer Strafrecht nur anwendbar, wenn andere Strafanwendungsbestimmungen anwendbar wären und etwa die Voraussetzungen von Art. 6 (bräuchte unter anderem ein internationales Abkommen mit ausdrücklicher Verfolgungspflicht. Siehe Popp/Keshelava, in: Niggli/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl., Basel 2019, Art. 6 N 5) oder 7 StGB (dazu müssten sich etwa die in Kolumbien tätigen Täter in der Schweiz befinden) erfüllt wären.
Garantenstellung?
Sofern Schweizer Strafrecht anwendbar ist, stellt sich die alles entscheidende Frage, ob die Leitungspersonen in der Schweiz eine Garantenstellung innehatten. Denn die fahrlässige Tötung durch Unterlassen stellt ein unechtes Unterlassungsdelikt dar. Strafbar machen kann sich deswegen nur, wer eine Garantenstellung hat. In Frage kommt eine Obhuts- bzw. Schutzgarantenstellung, da es um den Schutz von Leib und Leben bestimmter Personen (nämlich den Angestellten bzw. ehemaligen Angestellten der Tochtergesellschaft) und nicht gegenüber jedermann (in der Krisenregion) geht. Es braucht mithin eine besondere Beziehung des Garanten zum Rechtsgut Leib und Leben der bestimmten Personen (BSK StGB I-Niggli/Muskens, Art. 11 N 67).
Keine Garantenstellung aus Gesetz, Vertrag oder Ingerenz
Gemäss Art. 11 Abs. 2 StGB kann eine Garantenstellung unter anderem aus Gesetz, Vertrag, einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft oder der Schaffung einer Gefahr (sogenannte Ingerenz) entstehen. Da der ehemalige Arbeitnehmer im Ausland angestellt gewesen war, kann sich eine Garantenstellung aus Schweizer Gesetz nur ergeben, falls dieses etwa aufgrund der Bestimmungen im IPRG anwend- 195 bar war (Kaufmann et al., Extraterritorialität im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte, Bern 2016, Rn. 215). Eine einschlägige Bestimmung ist nicht ersichtlich. Ein Vertrag mit dem Opfer bestand im Tochterunternehmen zum Zeitpunkt des Tötungsdelikts nicht mehr.
Fraglich ist, ob man eine Garantenstellung aus Ingerenz prüfen kann. Man könnte dies mit dem Hinweis verneinen, dass Ingerenz eine Sicherungsgarantenstellung begründet (Seelmann/Geth, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl., Basel 2016, Rn. 292), die vorliegend gerade nicht gegeben ist, da es, wie gesagt, nicht darum geht jedermann in der Krisenregion vor einer Gefahrenquelle zu schützen, sondern höchstens um eine allfällige Pflicht, die Angestellten bzw. ehemaligen Angestellten der Tochtergesellschaft an Leib und Leben zu schützen. Geht man aber davon aus, dass auch eine Obhutsgarantenstellung aus Ingerenz entstehen kann (so Hurtado Pozo, Droit pénal, Partie générale, Genf 2008, Rn. 1330), kann man prüfen, ob im Fall Romero eine Garantenstellung aus Ingerenz entstanden ist. Bei der Garantenstellung aus Ingerenz, wird darüber gestritten, ob die Gefahrschaffung an sich bereits pflichtwidrig sein muss. Setzt man Pflichtwidrigkeit bei der Gefahrschaffung voraus (so etwa Hurtado Pozo, a.a.O., Rn. 1330; Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 4. Aufl., Bern 2011, § 14 N 20 f. a. A. etwa Donatsch/Tag, Strafrecht I – Verbrechenslehre, 9. Aufl., Zürich 2013, 319 f.), liegt im Fall Romero keine Garantenstellung der Leitungspersonen der Konzernobergesellschaft vor. Denn die Gefahrschaffung bestünde im Aufbau der Tochtergesellschaft in einer Krisenregion. Dies stellt jedoch keine pflichtwidrige Handlung dar. Auch dann nicht, wenn man die Meinung vertritt, dass eine Person eine Garantenstellung aus Ingerenz erlangt, wenn ihr Vorverhalten zwar im Rahmen des erlaubten Risikos bleibt, aber ein höheres Risiko gesetzt hat, als es unumgängliches alltägliches Verhalten tut (so etwa Seelmann/Geth, a.a.O., Rn. 304 m.w.N.). Denn der Aufbau von Tochtergesellschaften in Krisenregionen schafft per se noch kein höheres Lebensrisiko für dort gewerkschaftlich aktive Arbeitnehmer. Die Leitungspersonen der Konzernobergesellschaft hatten somit keine Gefahr für Luciano Romero in Kolumbien geschaffen. Damit kommt auch eine Garantenstellung aus Ingerenz nicht in Frage.
Garantenstellung aus schlafender Ingerenz?
Allenfalls könnte man sich überlegen, ob eine Garantenpflicht aus sogenannter schlafender Ingerenz vorliegt. Dieser Begriff wurde von Gless (Strafrechtliche Produkthaftung, recht 2013, 60) im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Produkthaftung geprägt. Die schlafende Ingerenz setzt dort gemäss Gless voraus, dass der Gesetzgeber den Produzenten eine Produktbeobachtungspflicht zugewiesen hat. Schlafend ist sie, weil die Garantenstellung bereits bei Inverkehrbringen eines Produkts besteht, die Garantenpflicht sich aber zunächst nur auf die Produktbeobachtung beschränkt und Handlungspflichten erst entstehen, wenn mit der Produktnutzung verbundene Gefahren erkannt werden. Übertragen auf den Fall Romero käme eine solche Garantenstellung aus schlafender Ingerenz einzig in Frage, wenn die Leitungspersonen in der Schweiz gegenüber den in der Tochtergesellschaft tätigen Personen gesetzliche Kontroll- und Aufsichtspflichten und bei Feststellung von Gefährdungen auch Handlungspflichten gehabt hätten. Um dies herauszufinden, ist ein Blick ins Privatrecht nötig. Konzerne leiten Gesellschaften, die formalrechtlich selbständig sind (Forstmoser, a.a.O., 713. Siehe etwa auch Art. 728 Abs. 6 OR und 963 Abs. 4 OR). Gemäss Forstmoser haben der Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung der Konzernobergesellschaft eine Konzernleitungspflicht wahrzunehmen. Diese Pflicht beschränke sich allerdings auf die Bereiche, für welche die Konzernobergesellschaft die Leitung beanspruche (diese Bereiche ergeben sich aus öffentlichen Aussagen der Konzerne zu Konzernorganisation und Kompetenzverteilung) oder die zur sorgfältigen Ausübung der Organisationspflicht gehören (Forstmoser, 196 a.a.O., 713 f.). Eine Mitverantwortung dafür, dass gewerkschaftlich tätige (ehemalige) Arbeitnehmer der Tochtergesellschaften nicht zu Schaden kommen, kann sich entsprechend einerseits aus der sorgfältigen Ausübung der Organisationspflicht ergeben und andererseits aus entsprechenden Erklärungen in öffentlichen Unternehmenspublikationen oder dem Beitritt zu internationalen Deklarationen (Forstmoser, a.a.O., 714 f.). Allerdings beschränkt sich diese Mitverantwortung der Konzernobergesellschaft gemäss Forstmoser dabei auf zwei Pflichten. Nämlich erstens darauf, die Tochtergesellschaft in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Aufgaben erfüllen zu können. Hier geht es vor allem darum, sicherzustellen, dass die Tochtergesellschaft nicht unterkapitalisiert ist. Die zweite Pflicht besteht darin, für eine angemessene Berichterstattung der Tochtergesellschaft zu sorgen (Forstmoser, a.a.O., 715 f.). In Bezug auf den Schutz gewerkschaftlich tätiger (ehemaliger) Arbeitnehmer der Tochtergesellschaft dürfte dies die wesentlichere Pflicht sein. Darüber hinaus hatte die Konzernobergesellschaft auch im Fall Romero keine Pflicht. Vielmehr durfte die Beurteilung der Schutzpflichten der Tochtergesellschaft überlassen bleiben (Forstmoser, a.a.O., 717). Insbesondere, da es sich dabei um eigene Aufgaben der rechtlich selbständigen Tochtergesellschaft handelt und nicht um solche, die von der Konzernobergesellschaft an die Tochtergesellschaft delegiert werden (Forstmoser, a.a.O., 715). Eine Garantenstellung aus schlafender Ingerenz scheidet folglich mangels konkret gesetzlich vorgesehener Aufsichts- und Kontrollpflichten aus.
Keine Garantenstellung aus faktischer Verantwortungsübernahme
Eine Garantenstellung kann sich aber auch aus anderen Gründen ergeben, als den in Art. 11 Abs. 2 StGB aufgezählten. Etwa aus freiwilliger Verantwortungsübernahme (a.A. Donatsch/Tag, a.a.O., 317). So hat etwa eine Person, die einen Blinden über die Strasse führt, eine Garantenstellung aus freiwilliger Verantwortungsübernahme und darf ihn nicht mitten auf der Strasse stehen lassen. Wer freiwillig Verantwortung übernimmt, muss sie tragen, solange die Gefahr besteht (siehe Entscheid des Obersten Gerichtshofes Österreich: OGH SSt Band 31, Nr. 1 vom 07.01.1960). Laut Bundesgericht ist in Bezug auf diejenigen, die Schneeräumungsarbeiten vornehmen, Garant aus faktischer Übernahme der Garantenstellung, wer im Rahmen des Baus einer Seilbahn über die Lawinengefahr informiert und in diesem Sinne die Strasse sperrt sowie eine Lawinensprengung plant (BGE 141 IV 249).
Übertragen auf den Fall Romero könnte man sich folglich fragen, ob die Leitungspersonen Garanten aus freiwilliger Verantwortungsübernahme geworden sind. Etwa, indem im Konzern Prinzipien, zu denen auch der Schutz der Menschenrechte gehört, für alle Länder, in denen der Konzern tätig ist, für verbindlich erklärt wurden. Oder durch den Beitritt zu internationalen Erklärungen (Forstmoser, a.a.O., 706). Zu beachten ist, dass bei Menschenrechten (i.e. in internationalen Verträgen verankerte «Grundrechte») die Adressaten in erster Linie Staaten sind. Unternehmen können sich dennoch selber verpflichten, Menschenrechte und somit z.B. gewerkschaftlich tätige (ehemalige) Arbeitnehmer der Tochtergesellschaft zu schützen. Wenn man darin die Übernahme einer freiwilligen Garantenstellung sieht, würden Soft Law und Selbstregulierungen zur Bestimmung einer strafrechtlich relevanten Garantenstellung führen. Dies ist schon deshalb abzulehnen, weil nicht die einzelne Leitungsperson durch ihr eigenes Verhalten diese Verantwortung übernommen hat, sondern sie auf einem Unternehmensentscheid beruht. Eine auf Soft Law und Selbstregulierung beruhende Garantenpflicht wäre auch nicht mehr mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot zu vereinbaren. Ausserdem würden Anreize dafür geschaffen, dass die Unternehmen solche Prinzipien aus Angst vor Strafbarkeitsrisiken nur noch unpräzise und unverbindlich formulieren und internationalen Erklärungen nicht mehr beitreten. Dem Menschenrechtsschutz wäre damit nicht gedient.
197 Eine Garantenstellung aus faktischer Verantwortungsübernahme ist auch nicht dadurch entstanden, dass der CEO der Nestlé AG 2003 nach Kolumbien gereist ist, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Die Nestlé-Konzernleitung führte keine direkten Gespräche mit der kolumbianischen Gewerkschaft oder schweizerischen NGOs, da für arbeitsrechtliche Fragen ausschliesslich die rechtlich selbständige Tochtergesellschaft zuständig sei (Forstmoser, a.a.O., 717). Aus aktienrechtlicher Sicht führt dies nicht zur Durchbrechung der klaren Haftungstrennung zwischen Konzernobergesellschaft und Tochtergesellschaft (Forstmoser, a.a.O., Fn. 26). Zu einer direkten Haftung der Konzernobergesellschaft und ihrer Organe könnte es erst kommen, wenn die Berufung auf die rechtliche Selbständigkeit und ausschliessliche Haftung der Tochtergesellschaft als missbräuchlich erschiene (etwa wegen Sphärenvermischung, Unterkapitalisierung oder Schaffung von Konzernvertrauen, Forstmoser, a.a.O., 720 f.). Solange die Konzernobergesellschaft die rechtliche Selbständigkeit der Tochtergesellschaft konsequent beachte, sie so ausstatte, dass sie ihre Aufgaben wahrnehmen kann und sie ihre Entscheidungen selbst treffen lässt, haftet aus privatrechtlicher Sicht die Konzernobergesellschaft nicht für die Tochtergesellschaft. Strafrecht sollte ultima ratio sein und schon deshalb ist eine Garantenstellung aus faktischer oder freiwilliger Übernahme jedenfalls dann abzulehnen, wenn das Verhalten der Konzernleitungspersonen nicht einmal privatrechtlich zu einer Haftung der Konzernobergesellschaft führen würde.
Keine Geschäftsherrenhaftung
Aus ähnlichen Gründen scheitert auch die Geschäftsherrenhaftung. Kern der Geschäftsherrenhaftung ist die Überwachung von Betriebsangehörigen und Betriebsgefahren. Die Gefahrenquelle muss sich dabei im Herrschaftsbereich der Geschäftsherren befinden. Laut Bundesgericht wäre etwa Herr Bührle «[a]ls Haupt der WO [Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon] und nach der beherrschenden Rolle, die er innehatte, […] verpflichtet gewesen, sogleich durchzugreifen und für Abhilfe zu sorgen, als er erkennen konnte, dass die Leitung der Waffen-Verkaufsabteilung sich über den Embargo-Beschluss des Bundesrates hinwegsetzte» (BGE 96 IV 155). Gemäss dem Von Roll Entscheid hatte der Konzernleiter, der gleichzeitig Leiter des Rechtsdienstes war, fahrlässig gegen das Kriegsmaterialgesetz verstossen, weil er nicht die nötigen organisatorischen Massnahmen getroffen hatte, um Widerhandlungen gegen das Kriegsmaterialgesetz im Betrieb auszuschliessen (BGE 122 IV 103). Im Fall Romero liegen die Gefahrenquellen – i.e. Diffamierung von Romero als Guerillakämpfer und Verflechtungen der Tochtergesellschaft mit paramilitärischen Kreisen – im Herrschaftsbereich der rechtlich selbständigen Tochtergesellschaft, nicht im Herrschaftsbereich der Leitungspersonen der Konzernobergesellschaft. Schon daran scheitert also die Geschäftsherrenhaftung.
Ausserdem wird die Geschäftsherrenhaftung auch begrenzt auf betriebstypische Risiken und Straftaten (BSK StGB I-Niggli/Muskens, Art. 11 N 104 m.w.N.). Betriebstypisch sind «Straftaten, die quasi in Erfüllung des unternehmerischen Ziels begangen werden» (Zerbes/Pieth, Unternehmerische Verantwortlichkeit für Völkerrechtsverbrechen im Ausland, KJ 2018, 83). So sind etwa Embargo-Verstösse betriebsbezogen, nicht aber Mobbing innerhalb des Betriebs. Denn beim Mobbing fehlt der innere Zusammenhang zur im Rahmen des Arbeitsverhältnisses zu erbringenden Tätigkeit (Zerbes/Pieth, a.a.O., 74 mit Verweis auf BGH, vom 20.10.2010, 4 StR 71/11, BGHSt 57, 42).
Das ECCHR warf den Leitungspersonen der Konzernobergesellschaft vor, dass Romero «mehrfach von den lokalen Nestlé-Vertretern» (gemeint sind wohl Personen, die für die Tochtergesellschaft tätig waren) fälschlich als Guerilla-Kämpfer diffamiert worden sei, was in Kolumbien die Wirkung eines Todesurteils haben könne. Ausserdem sei «die lokale Nestlé-Vertretung auf mehreren Ebenen mit para- 198 militärischen Kreisen verflochten» gewesen. Nach dem oben gesagten wird damit gerade kein betriebsbezogenes Fehlverhalten vorgeworfen. Vielmehr handelt es sich um ein Fehlverhalten, das krisengebietsbezogen ist. Für krisengebietsbezogenes Fehlverhalten schlagen Zerbes/Pieth vor, die Betriebsbezogenheit in einem weiteren Sinn zu verstehen, wenn die Straftaten mindestens mittelbar dem Unternehmensziel dienen. Etwa, wenn Angestellte als Gewerkschaftsvertreter ausgelöscht werden sollen (Zerbes/Pieth, a.a.O., 83). Die Betriebsbezogenheit an sich reicht aber für eine strafrechtliche Verantwortung nicht aus. Die entscheidende Frage bleibt, wer aus welchem Grund eine Garantenstellung und eine Garantenpflicht hat. Erst dann stellt sich die Frage nach der Betriebsbezogenheit.
Garantenpflicht aus gesetzlich verankerten UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte?
Fraglich ist, ob eine Annahme der KOVI zu neuen Garantenpflichten führen würde. Die KOVI verlangt einen neuen Artikel 101a «Verantwortung von Unternehmen» in die Bundesverfassung aufzunehmen, der den Bund beauftragt, Elemente der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte rechtlich verbindlich umzusetzen – und zwar «in allen Rechtsbereichen» (Verein Konzernverantwortungsinitiative, Factsheet 5, abrufbar unter https://konzern-initiative.ch/initiative-erklaert/ besucht am 10.09.2019) – mithin auch dem Strafrecht. Unternehmen sollen dafür sorgen müssen, dass Tochtergesellschaften oder anderweitig kontrollierte Unternehmen international anerkannte Menschenrechte respektieren. Unternehmen sollen ausserdem zu einer menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfung verpflichtet werden. Dabei sollen sie Menschenrechtsrisiken ermitteln, Massnahmen zu deren Verhütung ergreifen und darüber Rechenschaft ablegen. Unternehmen sollen ausserdem dafür haften, wenn Tochtergesellschaften oder anderweitig kontrollierte Unternehmen durch Menschenrechtsverletzungen in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtung einen Schaden verursacht haben, ausser das beherrschende Unternehmen beweist, dass es seine Sorgfaltspflichten erfüllt hat.
Die KOVI verfolgt damit löbliche Ziele und dehnt das ausservertragliche Haftpflichtrecht von natürlichen Personen als Geschäftsherren auf juristische Personen aus (Werro, Konzernverantwortungsinitiative: Über den Mythos Unternehmenshaftung, NZZ 18.12.2018, 10). Wirtschaftsstrafrecht ist zivilrechtsakzessorisch (Pieth, Die strafrechtliche Haftung für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AJP 2017, 1009). Dies bedeutet, dass sich nicht strafbar macht, wer sich an privatrechtliche Regeln hält. Es bedeutet indes nicht, dass haftpflichtrechtliche Regeln Grundlage einer strafrechtlichen Verantwortung sind. Insbesondere die strafrechtliche Garantenstellung zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht zivilrechtsakzessorisch ist (Geth, Off-label-use von Arzneimitteln und strafrechtliche Produkthaftung, recht 2013, 131). Wäre sie es, wäre der Weg zu einer dem strafrechtlichen Schuldprinzip widersprechenden strafrechtlichen Kausalhaftung nicht weit. Der Initiativtext ist deswegen mit Blick auf Strafbarkeitsrisiken für natürliche Personen differenzierter zu bewerten. Eine strafrechtlich relevante Garantenstellung erwächst aus der KOVI aus zwei Gründen nicht. Erstens ist die KOVI explizit auf Unternehmen und nicht auf natürliche Leitungspersonen zugeschnitten. Im Fokus steht damit eine privatrechtliche Haftung. Zweitens sind Dreh- und Angelpunkt der Initiative Sorgfaltspflichten. Sorgfaltspflichten führen aber gerade nicht zum Entstehen einer Garantenstellung, sondern sind erst zu prüfen, nachdem eine Garantenstellung bereits erstellt ist (BSK StGB I-Niggli/Muskens, Art. 11 N 148 f.).
Keine Unternehmensstrafbarkeit
Im Unterschied zum Privatrecht werden in erster Linie natürliche Personen strafrechtlich verantwortlich – nicht die juristische Person (Forstmoser, a.a.O., 722). Die Straflosigkeit von Leitungspersonen führt deswegen, das sei hier 199 pro memoria noch angemerkt, auch zur Straflosigkeit des Unternehmens gemäss Art. 102 StGB. Denn die sogenannte Anlasstat bildet eine objektive Strafbarkeitsbedingung für die subsidiäre Unternehmensstrafbarkeit nach Art. 102 Abs. 1 StGB (dasselbe gilt auch für die originäre Unternehmensstrafbarkeit nach Art. 102 Abs. 2 StGB, siehe BSK StGB I-Niggli/Gfeller, Art. 102 N 19a, 27, 61, 246). Als Anlasstat (für die nota bene Schweizer Strafrecht anwendbar sein muss, siehe Villard, La compétence du juge pénal suisse à l’égard de l’infraction reprochée à l’entreprise, Zürich 2017, N 882 ff.) wurde den für die Nestlé AG tätigen Personen fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen, was (wie gezeigt) an der fehlenden Garantenstellung scheitert. Art. 102 Abs. 1 StGB bezweckt ausserdem nicht die Verhinderung von Straftaten, sondern nur, dass das Unternehmen die Positionen, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten innerhalb des Unternehmens klar definiert, damit die Strafverfolgungsbehörden den Verantwortlichen bestimmen können (Bueno, La responsabilité des entreprises de respecter les droits de l’homme, AJP 2017, 1015 ff.). Art. 102 Abs. 2 würde die Verhinderung von Straftaten bezwecken. Allerdings nur von den ausdrücklich dort genannten Katalogstraftaten, zu denen fahrlässige Tötung durch Unterlassen nicht gehört.
Fazit: Keine Garantenstellung – keine Strafbarkeit für Leitungspersonen
Eine Leitungsperson, die keine Garantenstellung innehat, kann sich nicht der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen strafbar machen. Eine Garantenstellung und entsprechende Garantenpflichten sind für Leitungspersonen von Konzernobergesellschaften nur schwer zu etablieren. Daran wird auch die Konzernverantwortungsinitiative nichts ändern. Das Strafrecht ist hier zu Recht zurückhaltend. Erstens, da andere Rechtsgebiete (z.B. Haftpflichtrecht) eher geeignet sind, die Ziele der KOVI durchzusetzen und Strafrecht ohnehin als letztes Mittel (ultima ratio) eingesetzt werden sollte. Zweitens, da die Strafwürdigkeit für fahrlässiges Unterlassen doppelt verringert ist, da es einerseits «am Evidenzerlebnis einer kausalen Erfolgsverursachung fehlt» und andererseits Fahrlässigkeitsdelikte gegenüber Vorsatzdelikten wesentlich weniger schwer wiegen (Seelmann/Geth, a.a.O. Rn. 505). Drittens, weil das Strafrecht seine Funktion als Instrument der Verhaltenssteuerung verliert, wenn Leitungspersonen von Konzernobergesellschaften generell strafrechtlich verantwortlich gemacht würden, wenn sich in der Tochtergesellschaft Risiken realisieren oder krisengebietsbezogene Delikte begangen werden (die nota bene im Fall Romero in Kolumbien aufgeklärt wurden und zu Verurteilungen geführt haben. Siehe Forstmoser, a.a.O., 707).