Editorial

Die RedaktionEditorialContraLegem2021146

Endlich wieder da...

4Unsere letzte Nummer, die Festgabe für Christian Schwarzenegger, liegt schon ein Jahr zurück. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass unser Interesse an ContraLegem oder der Antrieb verschwunden wären. Das berüchtigte Coronavirus hat ebenfalls nichts damit zu tun. Die Erklärung ist trivialer, als man meint, und unsere aufmerksamen Leser werden es sicher schon erraten haben. Unser bisheriger Verlag hat sein Programm verändert. Zudem hat unser Layouter sich aus dem Staub gemacht. Im verstrichenen Jahr mussten (oder vor dem Hintergrund einer liberalen Position wohl besser: durften) wir daher den Weg zur Selbstständigkeit finden.

Wir sind nach wie vor überzeugt, dass eine freiheitlich-freigeistliche, strafrechtlich und rechtsphilosophisch orientierte, kritische Zeitschrift wie ContraLegem ihren Platz hat, gerade in diesen unsicheren und merkwürdigen Zeiten, in denen sich der Rechtstaat täglich ein wenig mehr aufzulösen scheint. Der Ausnahmezustand ist mittlerweile zur Regel mutiert. Und die Versuchung ist gross, sehnsüchtig auf die alte Welt zu schauen, in der unsere letzte Nummer noch erschienen ist. Verlockend wäre auch, mit Bedauern die letzten Stunden der verendenden Freiheit zu besingen, doch endet die Welt eben nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer (T. S. Elliot, The Hollow Men, 1925, «not with a bang but with a whimper»). Eine Krise ist immer Herausforderung und Chance zugleich; ob wir daraus lernen oder ob wir sie bloss erleiden, liegt in unserer Verantwortung. Wir schauen deshalb (als Strafrechtler ausnahmsweise) in die Zukunft und freuen uns, auf das Jahr 2021, das wir mit einer neuen Ausgabe unserer Zeitschrift beginnen dürfen.

Die Eckpunkte unserer Zeitschrift sind unverändert. In unserem ersten Editorial (ContraLegem 2018/1, 4-8)  haben wir den aktuellen Zustand der Wissenschaft kritisiert und angekündigt, dass ContraLegem der Reflexion und der intellektuellen Auseinandersetzung dienen solle. Wer das tut und selbst zu denken wagt, weiss nie, wo er landet, unabhängig davon, ob einer eine wissenschaftliche Reise unternimmt oder nur nachdenkt. Reflexion ist immer ein offener Prozess, d.h. eine Tätigkeit, die sowohl Zeit in Anspruch nimmt, als auch zu keinem vordefinierten Ausgang führt. Reflexion entzieht sich einerseits Planung und Vorgaben und kann andererseits nicht erzwungen werden. Sie setzt Neugier voraus, aber auch Mut, denn was wäre einer Reise zu ausschliesslich Bekanntem wert? Wer wagt, sich auf einen Gedanken einzulassen, ohne gleich Angst vor den Folgen zu haben, wird auch im Bekanntesten noch stets Neues entdecken. Und wie bei jeder Reise können wir höchstens entscheiden, ob und ggf. wann wir sie antreten, aber damit ist der Teil, den wir zu steuern vermögen, auch schon erschöpft.

Das kann man natürlich – passend zum Zeitgeist – als Bedrohung empfinden, aber damit verfehlt man vollständig das Kreative, das in Ungewissheit und Unsicherheit lebt. Wer die Risiken des Denkens zu beschränken sucht, schränkt das Denken selbst ein, denn ein wirkliches und wahrhaftiges Denken, das ungefährlich wäre, existiert nicht. Oder in den Worten von Henry Bauchau: «la liberté douce n'existe pas.» In einer Zeit, in der die Gartenzwerge das Sagen haben, überzeugt das vielleicht nicht besonders viele. Für die auf Schutz und Konsum hin Orientierten sei deshalb angemerkt, dass eine Tätigkeit – jede Tätigkeit –, deren Ziel bereits bekannt ist, nicht wirklich interessant werden kann, und eine Reise, bei der nichts Neues entdeckt werden wird, dazu verdammt ist, nicht bloss langweilig, sondern schlicht sinnlos weil überflüssig zu werden. Was sich gänzlich in blosser Wiederholung erschöpft, entbehrt des Eigenwertes. Was vollständig unter Kontrolle ist, wird uns nicht lange fesseln können. Dafür ist menschliche Existenz schlicht zu kurz und beschränkt. Wer 5von Anfang an ausschliesst, dass er je neues Land entdeckt, muss sich die Frage gefallen lassen, warum er die Reise überhaupt antritt.

Leicht sind wir versucht zu verzweifeln. Denn die Welt scheint hart daran zu arbeiten, das Freie, Verspielte und Verführerische der freien Reflexion abzuschaffen (weil zu riskant), aber noch sind wir nicht soweit. Es lohnt sich, an das mittelalterliche «Fürs Denken kann man niemand henken» zu erinnern, es konsequent umzusetzen und sich auf unbeschilderte Wege zu wagen. Serendipität – die zufällige Beobachtung von etwas nicht Gesuchtem, das sich als wertvolle Entdeckung erweist – lässt sich in seiner Bedeutung (auch für das Recht) nicht überschätzen. Der Terminus stammt übrigens vom heute fast vergessenen Horace Walpole, der mit The Castle of Otranto [1764] nicht nur den ersten Horror-Roman verantwortet, sondern dessen tausende Briefe auch die wohl unerschöpflichste Quelle von Informationen zum 18. Jahrhundert darstellen.

Im Zentrum der vorliegenden Ausgabe steht eine Untersuchung von Marcel Niggli, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob die unwahre Feststellung von Sachverhalten in einer Verfügung eine Falschbeurkundung i.S.v. Art. 251 Ziff. 1 StGB bzw. Art. 317 Ziff. 1 Abs. 2 StGB darstelle.

Der Beitrag von Junius befasst sich mit dem Zwangsmassnahmengericht. Mit Inkrafttreten der StPO wurde das sogenannte Staatsanwaltschaftsmodell II in der ganzen Schweiz eingeführt (vgl. dazu Botschaft StPO, BBl 2006 1085, 1103 ff.). Dieser Name ist nichts anderes, denn eine nette Bezeichnung für die Konzentration von Ermittlung, Untersuchung, Anklageerhebung und Anklagevertretung in der Hand der Staatsanwaltschaft, der mit dem Strafbefehl zudem richterliche Funktionen zugewiesen werden, ein in der Bezeichnung der StPO «besonderes Verfahren»über welches heute weit über 90% der Schweizer Strafverfahren erledigt werden. Als Ausgleich für diese übergrosse Machtkonzentration bei der Staatsanwaltschaft (es gibt keine Untersuchungsrichter) waren verschiedene Kompensationsmassnahmen gedacht, darunter das Zwangsmassnahmengericht. Unter praktizierenden Rechtsanwälten ist es indes ein offenes Geheimnis, dass das Zwangsmassnahmengericht seine Rolle als unabhängige Instanz und seine Kontrollfunktion nicht wahrnimmt. Um dies zu veranschaulichen: Mehr als 90% der medialen Berichterstattung betreffen heute das Thema Covid-19. Das ist wirklich viel, wird aber noch deutlich übertroffen von der Quote der gutgeheissenen Anträge auf Anordnung von Zwangsmassnahmen, hier nämlich sind es sage und schreibe 97% (vgl. dazu Niklaus Oberholzer, Richterliche Absegnung reicht nicht, plädoyer 6/2018  / Digitale Gesellschaft ). Und weil die 3% offenbar immer noch stören, hat das Bundesgericht bereits wenige Monate nach Inkrafttreten der Strafprozessordnung das Beschwerderecht der «verhafteten Person» (Art. 222 StPO) contra legem auf die Staatsanwaltschaft ausgedehnt (vgl. ContraLegem 2018/1, 47-48 ). Der Beitrag zeigt, dass für diese – eigentlich nur aus totalitären Systemen bekannte – Zustimmungsquote möglicherweise auch strukturelle Gründe bestehen.

Dimitrios Karathanassis beschäftigt sich mit der Europäischen Datenschutzverordnung (DSGVO), die seit zweieinhalb Jahre in Kraft ist. Deutlich wird der Paradigmenwechsel, dass nicht mehr lediglich ein Rahmen gesetzt wird, innerhalb dessen man sich rechtskonform verhält («Gesetzgebung»), sondern konkrete Verhaltensweisen oder Massnahmen gefordert werden («Regulierung»). Das wird – so Karathanassis – einen so tiefgreifenden Einfluss auf die Unternehmensstrukturen haben wie damals das GwG. Wir sind gespannt auf die bevorstehende Totalrevision des Schweizer Datenschutzgesetzes.

Zukünftig soll ContraLegem in jeder Nummer zumindest einen merkwürdigen Entscheid präsentieren. Beginnen wollen wir mit einem Entscheid der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts vom 17. Dezember 2019 (BB.2019.213/BB.2019.215), den Robert Lediable bespricht. Er betrifft eine Beschwerde gegen die Rückweisung gemäss Art. 329 StPO einer höchst unpräzis formulierten Anklage der Bundesanwaltschaft durch die Strafkammer des Bundesstrafgerichtes, die gutgeheissen wurde. Dies mit dem doch ungewöhnlichen Argument, eine Verletzung des Anklageprinzips werde dadurch geheilt, dass eine Berufungsinstanz mit voller Kognition bestehe.

Eine interessante Überlegung zur Ersatzfreiheitsstrafe hat uns Sabrina Imholz-Fisch zukommen lassen. Sie belegt, dass Dinge (auch Strafen) nicht immer wirken, wie man glaubt oder zu wissen glaubt. Wer wissen will, 6warum Zeit nicht Geld ist, vor allem dann nicht, wenn man arm ist, kommt um diese Lektüre nicht herum.

Last but not least enthält diese Nummer wieder einmal Gedichte, diesmal drei wunderbare Gedichte von Carola Göhlich.

Wir hoffen, diese Ausgabe werde wieder auf Interesse stossen und freuen uns bereits auf die nächste. Die nämlich ist bereits in Vorbereitung und wird – im Rahmen des zukünftig geplanten vierteljährlichen Rhythmus – bald veröffentlich werden. Eine Stille wie diejenige des Jahres 2020 soll es nicht mehr geben. So viel für den Moment.

Die Redaktion

Freiburg, Januar 2021

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