Selbstbelastende Aussagen in Enforcementverfahren der FINMA und deren Verwendung im Strafprozess
Michael Kunz
82Enforcement, d.h. die Durchsetzung des Finanzmarktaufsichtsrechts, zählt heute laut Jahresbericht 2018 der Eidg. Finanzmarktaufsicht FINMA zu deren Kernaufgaben. Enforcement versteht sie als Mittel zur Erreichung der Aufsichtsziele. Seit ein paar Jahren spüren das auch Organe und Mitarbeitende von Banken und anderen Finanzintermediären. Die Ungewöhnlichkeit des Themas, welche sich bereits im Titel des Beitrags andeutet, beginnt bereits hier: Organe und Mitarbeitende von Banken sind nicht Beaufsichtigte gemäss Bundesgesetz über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finanzmarktaufsichtsgesetz, FINMAG) und unterstehen damit keiner direkten Aufsicht der FINMA. Trotzdem kann die FINMA gegen sie als Parteien Enforcementverfahren führen und Enforcementverfügungen erlassen. Dies gilt selbst dann, wenn sie gar nicht mehr bei einem Beaufsichtigten tätig sind.
Enforcementverfahren werden von der FINMA eröffnet, wenn ein Verdacht auf eine Verletzung von Aufsichtsrecht besteht, der abgeklärt werden muss. Betroffen von Ermittlungen können sowohl Bewilligungsträger (als Beaufsichtigte) als auch potenziell illegal tätige natürliche oder juristische Personen sein. Wurde Aufsichtsrecht verletzt, muss die FINMA für die Wiederherstellung des gesetzmässigen Zustandes sorgen und kann bei schweren Verletzungen Sanktionen erlassen.
Enforcementverfahren können schwerwiegende Konsequenzen für natürliche Personen als Betroffenen haben. Die FINMA kann gegen sie gestützt auf Art. 33 FINMAG Berufsverbote bis zu fünf Jahren erlassen. Faktisch führt bereits die Eröffnung des Enforcementverfahrens zu einem Ausscheiden aus der Bank oder einem «garden leave». Spätestens mit dem Erlass eines Berufsverbots ist die Karriere im Finanzsektor meist beendet. Dies gilt selbst dann, wenn das Berufsverbot noch nicht rechtskräftig ist oder in einem Beschwerdeverfahren vollständig sogar vollständig aufgehoben wird.
Angesichts der drohenden persönlichen Konsequenzen stellen sich für die von Enforcementverfahren betroffenen natürlichen Personen, auf deren Situation sich der vorliegende Text beschränkt, verschiedene Fragen:
Handelt es sich beim Enforcementverfahren um ein Verwaltungs- oder um ein Strafverfahren?
Wie ist das Verhältnis zwischen Enforcementverfahren und Strafverfahren?
Welche Regelungen gelten für das Enforcementverfahren und müssen Betroffene im Enforcementverfahren Aussagen machen, die sie belasten könnten?
Können selbstbelastenden Aussagen im Enforcementverfahren in anschliessenden 83Strafverfahren gegen Betroffene als Angeschuldigten verwendet werden?
Das Bundesgericht hat in BGE 142 II 243 die erste Frage mit Bezug auf Enforcementverfahren zum Erlasse eines Berufsverbots klar mit nein beantwortet. Diese seien keine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II. Das von der FINMA gegen bei einer Beaufsichtigten in leitender Stellung tätige Personen verhängte Berufsverbot wird vom Bundesgericht als identisch mit einem zeitlich beschränkten Berufsausübungsverbot bezeichnet, welches die Aufsichtskommission aus Gründen des Publikumsschutzes und zur Wahrung von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr (…) als Disziplinarmassnahme gegen eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt aussprechen könne. Rechtsanwälte können sich der Disziplinierung durch die Aufgabe ihrer forensischen Tätigkeit und Löschung im Anwaltsregister entziehen. Banker können hingegen selbst im Falle einer Tätigkeit ausserhalb des Finanzsektors immer noch mit einem Berufsverbot im Finanzsektor bestraft, pardon: diszipliniert werden. Einmal Banker, immer Bankster.
Weil das Bundesgericht die Beschwerde trotzdem gutgeheissen und das Verfahren zur Ergänzung des Sachverhalts (!) an die Vorinstanz zurückgewiesen hatte, war ein Gang nach Strassburg im betroffenen Verfahren nicht erforderlich. Die Vorinstanz hob das Berufsverbot der FINMA nach zwei weiteren Jahren rechtskräftig auf. Das Urteil des Bundesgerichts zur Rechtsnatur des Enforcementverfahrens wurde in der Lehre, soweit ersichtlich, überwiegend kritisiert, auch in diesem Forum. Dessen ungeachtet bestätigte das Bundesgericht seine Praxis in einem neueren Urteil 2C_177/2019 vom 22. Juli 2019 bezüglich der Publikation eines Verbots, eine bestimmte Finanzintermediäre Tätigkeit auszuüben (sog. «naming and shaming»). Die Publikation des Verbots stelle wie das Berufsverbot eine verwaltungsrechtliche Sanktion und keine strafrechtliche Sanktion dar.
Stellt das Verfahren auf Erlass eines Berufsverbots keine strafrechtliche Anklage dar, finden die dafür vorgesehenen Garantien wie das Verbot der Selbstbelastung des Betroffenen („nemo tenetur») im Enforcementverfahren keine Anwendung (E. 3.2-3.4): «In auf Auferlegung eines Berufsverbots gerichteten Verfahren kann auf Aussagen abgestellt werden, welche die natürliche Person im gegen die Beaufsichtigte geführten Verfahren getätigt hat: Das Selbstbelastungsverbot steht einer Verwertung dieser Aussagen nicht entgegen, weil das Berufsverbot hinsichtlich seiner Art und Schwere eine wirtschaftspolizei-rechtlich motivierte Einschränkung der Wirtschaftsfreiheit und nicht eine strafrechtliche Anklage i.S.v. Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist.»
Kommen wir zur zweiten Frage, dem Verhältnis zwischen Enforcementverfahren und Strafverfahren gemäss Strafprozessordnung. Beide Verfahren können von einander unabhängig geführt werden. Sie können zeitlich gestaffelt oder auch gleichzeitig stattfinden. In der Praxis findet das Enforcementverfahren meist vor dem Strafverfahren statt. Das hat einen einfachen Grund: Die FINMA ist verpflichtet, bei den zuständigen Behörden Strafanzeige einzureichen, wenn sie Kenntnis von strafbaren Handlungen erlangt. Soweit es um Verstösse gegen das Finanzmarktaufsichtsrecht geht, dürften die zuständigen Strafverfolgungsbehörden kaum je ohne Anzeige der FINMA davon erfahren.
Die FINMA muss für die Strafanzeige Informationen aus dem Enforcementverfahren verwenden. Zwischen den beiden Verfahren besteht aber noch ein weiterer Berührungspunkt. Das Finanzmarktaufsichtsgesetz ermächtigt die FINMA und die Strafverfolgungsbehörden zur gegenseitigen Amtshilfe. Sie tauschen die im Rahmen der Zusammenarbeit und «zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Informationen» aus. Das ist ganz praktisch, 84weil jede Behörde bei der Beschaffung von Informationen, die für die andere Behörde interessant ist, ihre eigenen Verfahrensregeln anwenden kann. Beide Behörden gelangen dadurch an Informationen, an die sie durch die eigenen Verfahrensregeln nicht gelangen könnten.
Die FINMA kann zwar laut ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung die Herausgabe von Informationen und Akten an die Strafverfolgungsbehörden (und andere inländische Behörden) verweigern. Das muss aber diese nicht kümmern. Verfügen sie wie Strafverfolgungsbehörden über entsprechende Kompetenzen, können sie die von der FINMA verlangten Informationen und Akten im Strafverfahren direkt bei den Betroffenen einverlangen. Über die Amtshilfe haben sie von deren Existenz ja bereits Kenntnis erlangt. So geschehen bezüglich eines Berichts, denn eine Anwaltskanzlei für eine grosse Bank erstellt hatte. Nachdem die FINMA die Herausgabe des Berichts an die Bundesanwaltschaft verweigert hatte, beschaffte sich diese den Bericht durch eine Hausdurchsuchung bei der Bank gleich selbst. Die – seltene – Verweigerung der FINMA lief dadurch ins Leere. Die Strafverfolgungsbehörde hatte das im Finanzmarktaufsichtsgesetz für solche Meinungsverschiedenheiten ausdrücklich vorgesehene Streitschlichtungsverfahren zwischen den Behörden mit der Hausdurchsuchung ganz einfach umgangen und ad absurdum geführt. Rechtsmissbrauch scheint nur für Privatpersonen verboten.
Nun zur dritten Frage: Formell ist für das Enforcementverfahren das Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) anwendbar. Das Verwaltungsverfahrensgesetz verpflichtet die Parteien in Art. 13, an der (amtlichen) Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken. Diese Aufforderung wird im Finanzmarktaufsichtsgesetz zum Zwang: Die Beaufsichtigten müssen der FINMA nach Art. 29 Abs. 1 FINMAG alle Auskünfte erteilen und Unterlagen herausgeben, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Dies gilt nicht nur, aber auch für Enforcementverfahren. Gegenüber der FINMA gilt jedoch nicht nur eine Aussage- und Herausgabepflicht. Beaufsichtigte sind auch zur Wahrheit verpflichtet. Die vorsätzliche Erteilung von falschen Auskünften gilt gemäss Art. 45 FINMAG als Vergehen, die fahrlässige Begehung als Übertretung.
Organe und Mitarbeitende sind wie erwähnt keine Beaufsichtigte. Trotzdem ist bisher unbestritten, dass sie gegenüber der FINMA auskunftspflichtig sind. Ist die Beaufsichtigte eine juristische Person, so ist sie zwar Partei und auskunftspflichtig, kann aber selbst nicht handeln und Auskunft geben. Gemäss Botschaft zum FINMAG sind in diesem Fall die Organe Adressaten der Auskunftspflicht. Sie liefern der FINMA die verlangten Informationen und Unterlagen. Zur Sache der Beaufsichtigten werden die Organe von der FINMA befragt. Die natürliche Person kann im Enforcementverfahren auch als Partei auskunftspflichtig sein. Das Verwaltungsverfahrensgesetz sieht keine formelle Einvernahme der Partei vor, diese können nur befragt werden. Mitarbeitende von Beaufsichtigten werden von der FINMA hingegen formell als Zeugen befragt. Die FINMA gehört gemäss Art. 14 VwVG zu den Verwaltungsbehörden, welche zur Durchführung von formellen Zeugeneinvernahmen ermächtigt ist.
Weder das FINMAG noch das VwVG sehen ein formelles Aussageverweigerungsrecht im Falle einer Selbstbelastung für Betroffene vor. Obwohl nemo tenetur im Verwaltungsverfahrensrecht wie erwähnt nicht gilt, macht die FINMA Organe und Mitarbeitenden in den Befragungen bzw. Zeugeneinvernahmen dennoch darauf aufmerksam, dass sie zwar zur wahrheitsgemässen Auskunft verpflichtet sind, jedoch aufgrund analoger Anwendung von Art. 16 VwVG i.v.m. Art. 42 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Bundeszivilprozess die Beantwortung von Fragen verweigern können, falls sie sich dabei der Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung oder einer schweren Benachteiligung der Ehre aussetzen könnten oder ihnen ein unmittelbarer vermögensrechtlicher Schaden 85verursacht würde, die FINMA in diesem Fall aber die Verweigerung der Mitwirkung frei würdigen kann. Die FINMA weist in den Befragungen von Parteien und Organen weiter auf die Strafdrohung bei Erteilung falscher Auskunft gemäss Art. 45 FINMAG,
Mit dieser Vorgehensweise schafft die FINMA eine strafbewehrte Aussagepflicht gegenüber Untersuchungsbeauftragten, wo das Finanzmarktaufsichtsgesetz keine vorsieht. Es gibt Strafrechtler, welche diese Vorgehensweise als strafbare Nötigung qualifizieren..
Die FINMA überträgt die Feststellung des Sachverhalts in Enforcementverfahren in den meisten Fällen an Untersuchungsbeauftragte. Das ist praktisch, weil das VwVG für Untersuchungsbeauftragte nicht gilt. Trotzdem besteht für Beaufsichtigte bzw. deren Organe gemäss Art. 36 Abs. 3 FINMAG gegenüber Untersuchungsbeauftragten eine Aussage- und Herausgabepflicht. Das ist aber noch nicht genug: Die FINMA weist die Beaufsichtigten und deren Organe im Dispositiv der Einsetzungsverfügungen für Untersuchungsbeauftragte regelmässig auf die Strafdrohung von Art. 48 FINMAG, Missachten von Verfügungen der FINMA, hin. Mit Busse bis zu 100 000 Franken wird bestraft, wer einer von der FINMA unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels ergangenen rechtskräftigen Verfügung oder einem Entscheid der Rechtsmittelinstanzen vorsätzlich nicht Folge leistet. Anschliessend wird ihnen im Dispositiv unter Androhung von Busse gemäss Art. 48 FINMAG die Pflicht auferlegt, den Untersuchungsbeauftragten sämtliche Informationen und Unterlagen zu den Geschäftsaktivitäten zur Verfügung zu stellen und Zugang zu den Räumlichkeiten zu verschaffen sowie keine relevanten Unterlagen und Dateien jeglicher Art zu verändern, zu vernichten oder vernichten zu lassen. Mit dieser Vorgehensweise schafft die FINMAG eine strafbewehrte Aussagepflicht gegenüber Untersuchungsbeauftragten, wo das Finanzmarktaufsichtsgesetz keine vorsieht. Es gibt Strafrechtler, welche diese Vorgehensweise als strafbare Nötigung qualifizieren. Im Dispositiv der Einsetzungsverfügung ergeht zudem der Hinweis auf die Strafdrohung für falsche Auskunft gemäss Art. 45 FINMAG.
Das VwVG ist für Untersuchungsbeauftragte wie erwähnt nicht anwendbar. Sie führen mit den Beaufsichtigten bzw. deren Organe und Mitarbeitenden deshalb formlose Befragungen durch. Die Untersuchungsbeauftragten weisen in ihren Befragungen eingangs auf die Aussagepflicht gemäss Art. 36 Abs. 3 FINMAG hin. Seit wenigen Jahren weisen sie auch auf das Aussageverweigerungsrecht im Falle einer möglichen Selbstbelastung sowie die Würdigung einer allfälligen Verweigerung der Aussage nach freiem Ermessen hin. Wie sich das Aussageverweigerungsrecht mit der strafbewehrten Auskunfts- und Herausgabepflicht in der Einsetzungsverfügung verträgt, ist bisher nicht geklärt.
86Wenden wir uns nun der letzten, entscheidenden Frage zu, ob selbstbelastende Aussagen aus dem Enforcementverfahren in anschliessenden Strafverfahren verwendet werden können. Wie erwähnt muss die FINMA Strafanzeige einreichen, wenn sie von strafbaren Handlungen Kenntnis erlangt. Für die Widerhandlungen gegen die Strafbestimmungen des FINMAG oder der Finanzmarktgesetze ist das Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR) anwendbar, soweit das FINMAG oder die Finanzmarktgesetze nichts anderes bestimmen. Verfolgende und urteilende Behörde ist nach Art. 50 Abs. 1 FINMAG das Eidg. Finanzdepartement, das in seinem Rechtsdienst für solche Verfahren einen sog. Strafrechtsdienst geschaffen hat. Die sachliche Zuständigkeit dieser Behörde für die Untersuchung der Straftaten ergibt sich auch aus Art. 20 VStrR.
In der Praxis läuft es ganz anders: Verdächtigt die FINMA beispielsweise eine unbefugte Entgegennahme von Publikumseinlagen durch Personen, welche dafür nicht über die erforderliche Bewilligung verfügen, erstattet die FINMA nicht etwa eine Strafanzeige beim Strafrechtsdienst. Sie eröffnet selbst ein Enforcementverfahren und klärt den Sachverhalt in eigener Regie ab. Sie übernimmt damit die Untersuchung für die möglicherweise strafbare Handlung gleich selbst und führt unter dem Deckmantel des Verwaltungsverfahrensrechts faktisch eine strafrechtliche Untersuchung. Ob darin eine Amtsanmassung liegt, wurde bisher leider noch nicht geklärt. Dessen ungeachtet schliesst die FINMA ihre Untersuchung mit einer Verfügung gemäss VwVG ab, in welcher sie die unbefugte Entgegennahme von Publikumseinlagen, d.h. den objektiven Tatbestand der strafbaren Handlung, «aufsichtsrechtlich» feststellt. Wird die Feststellungsverfügung rechtskräftig, so erstattet sie beim Strafrechtsdienst Anzeige gegen die im Verwaltungsverfahren involvierte(n) Partei(en) wegen Verletzung von Art. 44 FINMAG, Tätigkeit ohne Bewilligung. Sie übergibt dem Strafrechtsdienst mit der Strafanzeige eine Kopie ihrer eigenen amtlichen Akten. Darin befinden sich auch alle Erkenntnisse, welche die Parteien im Enforcementverfahren der FINMA oder Untersuchungsbeauftragten unter Aussage- und Wahrheitszwang zu ihrer eigenen Belastung ausgesagt oder unter Herausgabezwang an die FINMA oder Untersuchungsbeauftragte herausgegeben haben. Ebenso sind diese Erkenntnisse meist in der Sachverhaltsdarstellung der Verfügung, in welcher die unbefugte Entgegennahme von Publikumseinlagen festgestellt wurde, enthalten. Die FINMA überlässt es dem Strafrechtsdienst, über die Verwertung der selbstbelastenden Aussagen zu entscheiden.
In Verwaltungsstrafverfahren gilt das Verbot der Selbstbelastung grundsätzlich. Zwar ist auch nach Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht jede Pflicht unzulässig, Informationen zur Verfügung stellen zu müssen, die auch Strafsanktion nach sich ziehen können. Wie in BGE 140 II 384 E.3.3.2 dargelegt, verbiete Art. 6 EMRK (nur) die sogenannte «improper compulsion», d.h. eine missbräuchlich bzw. unverhältnismässig ausgeübte Form von Zwang. Als solche «improper compulsion» erachtet der EGMR etwa eine unter Strafandrohung erzwungene Herausgabe von potenziell belastenden Dokumenten z.B. in einem Zollstrafverfahren im Urteil Funke gegen Frankreich vom 25. Februar 1993 oder in einem Steuerhinterziehungsverfahren im Urteil Chambaz gegen Schweiz vom 5. April 2012.
Zur Beurteilung der Frage, ob das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, verletzt ist, stellt der EGMR auf die Natur und den Grad des angewandten Zwangs zur Erlangung des Beweismittels, die Verteidigungsmöglichkeiten sowie den Gebrauch des Beweismaterials ab. Wird in einem Enforcementverfahren der FINMA eine Aussage gestützt auf eine Aussagepflicht und Strafdrohung gemäss Art. 48 FINMAG im Weigerungsfall erlangt, läge nach hier vertretener Auffassung eine «improper compulsion» vor. Diese müsste gemäss EGMR im Verwaltungsstrafverfahren beachtet werden, selbst wenn sie in einem anderen Verfahren erfolgt war, sofern zwischen 87beiden Verfahren ein genügend enger Bezug besteht. Dies scheint über die Anzeigepflicht der FINMA der Fall zu sein.
Wehrt sich ein Angeschuldigter im Verwaltungsstrafverfahren gegen die unzulässige Verwendung von Informationen und Unterlagen, welche durch eine «improper compulsion» im Enforcementverfahren der FINMA erlangt wurden, und verlangt eine gerichtliche Beurteilung, so dürfte er ein blaues Wunder erleben. Es könnte ihm wie dem Angeschuldigten ergehen, der zur Klärung dieser Frage bis ans Bundesstrafgericht gelangte. Die Vertreterin des Strafrechtsdienstes beantragte in ihrem Schlussplädoyer in der öffentlichen Verhandlung vor dem Einzelrichter die Bestrafung des Angeschuldigten und machte in letzter Sekunde des mehrjährigen Verfahrens erstmals eine Ersatzforderung des Staates von mehreren hunderttausend Franken gelten. Eingeschüchtert von diesen unerwartet drohenden finanziellen Konsequenzen zog der Angeschuldigte sein Begehren um gerichtliche Beurteilung zurück und verzichtete auf die gerichtliche Klärung der Frage, ob die aufgrund einer «improper compulsion» von ihm erlangten Informationen und Unterlagen im Verwaltungsstrafverfahren gegen ihn verwendet werden dürfen. Im Ergebnis führten (nur) sie zu seiner Verurteilung.
Soweit ersichtlich ist die Frage bis heute nicht geklärt und selbstbelastende Aussagen aus dem Enforcementverfahren, welche durch eine «improper compulsion» erlangt wurden, dürften in Verwaltungsstrafverfahren weiterhin trotz Verbot gegen die Angeschuldigten verwendet werden. Das raffinierte Vorgehen des Strafrechtsdienstes, welches im Übrigen in der publizierten Einstellungsverfügung des Einzelrichters nicht erwähnt wird, verhinderte bisher mutmasslich in vergleichbaren Fällen Versuche zur gerichtlichen Klärung erfolgreich.
So schockierend die Verwertung von selbstbelastenden, unter Zwang erlangten Aussagen aus dem Enforcementverfahren der FINMA im anschliessenden Verwaltungsstrafverfahren aus rechtsstaatlicher Sicht auch sein mag, so konsequent erscheint sie angesichts der Kumulierung merkwürdiger Konstellationen. Zusammenfassend hier noch einmal die wichtigsten Faktoren:
Im aufsichtsrechtlichen Enforcementverfahren bestehen ausserordentlich weit gehende Auskunfts- und Herausgabepflichten sowie eine strafbewehrte Wahrheitspflicht für natürliche Personen;
Die FINMA führt Enforcement- und damit Verwaltungsverfahren gegen natürliche Personen, welche nicht Beaufsichtigte im Sinne des Gesetzes sind und dem FINMAG damit persönlich gar nicht unterstehen;
Das Enforcementverfahren stellt bei Straftatbeständen im Finanzmarktaufsichtsrecht faktisch eine Voruntersuchung zu strafbaren Handlungen durch die FINMA als Verwaltungsbehörde dar;
Die Auslagerung der Sachverhaltsermittlung an Untersuchungsbeauftragte unter Ausschluss der Anwendung des VwVG in Verbindung mit der rechtswidrigen Anordnung einer strafbewehrten Auskunfts- und Herausgabepflichte für die Beaufsichtigten und deren Organe führt zu einer unzulässigen «improper compulsion». Kommt es später zu einer Strafanzeige, erfolgte die Untersuchung einer strafbaren Handlung durch die Untersuchungsbeauftragten als private Unternehmen;
Die FINMA hält in einer Feststellungsverfügung als Verwaltungsbehörde fest, dass der objektive Tatbestand einer Verwaltungsstrafbestimmung erfüllt ist;
88Die enge Verknüpfung von Enforcement- und Strafverfahren mit zwangsweise ungehindertem Austausch von Informationen und Unterlagen führt zur ungehinderten Überführung von Informationen und Unterlagen, welche im Enforcementverfahren durch selbstbelastende Aussagen oder Herausgabe von Unterlagen erlangt wurden, in ein Strafverfahren;
Im Verwaltungsstrafverfahren gelangt der Grundsatz von nemo tenetur nicht oder nur ungenügend zur Anwendung.
Hier manifestiert sich nach hier vertretener Auffassung eine schon länger festgestellte Entwicklung in der Auslegung von Aufsichtsrecht. Zur Anwendung gelangt meist die fünfte, in keiner Verfügung und keinem Urteil erwähnte Auslegungsmethode: Die utilitaristische Auslegung – vom Ergebnis her gedacht. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist die Situation unbefriedigend. Inwieweit das Verhalten von FINMA-Beaufsichtigten und deren Exponenten in den letzten Jahren die Haltung der Behörden negativ beeinflusst hat, kann hier offenbleiben.
Der Grund für diese Ungereimtheiten liegt auch in einem konzeptionellen Fehler des FINMAG. Ursprünglich hatte ihre Vorgängerbehörde, die Eidg. Bankenkommission, für Enforcementverfahren ein umfassendes Sanktionensystem mit eigenem Sanktionsverfahren vorgesehen, das sich in prozessualen Fragen nicht nur am Strafverfahren orientierte, sondern auch als solches gelten wollte. Der Gesetzgeber wollte es jedoch anders. Neben dem Berufsverbot überlebte nur die Einziehung unrechtmässiger Gewinne das ursprüngliche Konzept. Auf ein eigenes Sanktionsverfahren hat der Gesetzgeber ebenfalls verzichtet. Dies hätte eigentlich dazu führen müssen, dass die Untersuchung bei Verwaltungsstraftatbeständen gemäss Art. 20 VStrV durch die «beteiligte Verwaltung» - hier dem Strafrechtsdienst - erfolgen müsste. Die Zuständigkeit für die Untersuchung im Verwaltungsstrafverfahren hat die FINMA jedoch usurpiert und führt an dessen Stelle ein verwaltungsrechtliches Enforcementverfahren durch, mit den beschriebenen Konsequenzen. Hier liegt der eigentliche Hund begraben.
Stellen selbstbelastende Aussagen und/oder die selbstbelastende Herausgabe von Unterlagen im Enforcementverfahren die einzigen oder zumindest massgebenden Beweise für eine möglicherweise strafbare Tätigkeit eines Beaufsichtigten bzw. von dessen Organen und/oder Mitarbeitenden dar, muss die Aussage bzw. Herausgabe bereits im Enforcementverfahren verweigert werden. Anders kann der Schutz vor Selbstbelastung im Verwaltungsstrafverfahren vorläufig nicht sichergestellt werden.
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