«Rechtsgeschäfte unter Gefangenen sind verboten»
Alain Joset
48Heute ist der Nebel, wie oft in den Herbst- und Wintermonaten, besonders dicht in Regensdorf. Der diffuse, graue Deckel scheint undurchdringbar und die Sonne weit weg. Durch die vergitterten Fenster der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, die grösste geschlossene Vollzugsanstalt der Schweiz, erscheint der Hochnebel noch etwas schwerer und dicker als ausserhalb der Gefängnismauern.
Doch heute ist Montag und der erste Wochentag ist für die Insassen der Abteilung Alter & Gesundheit (AGE) ein besonderer Tag. So auch für Hans Stettler. Er wurde vom Obergericht des Kantons Zürich im Jahre 2003 verwahrt und ist bereits seit 21 Jahren in der «Pöschwies» eingesperrt. Hans Stettler ist 75 Jahre alt.
Hans Stettler freut sich auch heute auf den Montag, denn die Gefangenen der Abteilung Alter & Gesundheit dürfen einmal in der Woche – jeweils Montags – ihren täglichen Hofgang im grossen Hof, zusammen mit den übrigen Gefangenen der «Pöschwies», absolvieren. Der spezielle Hofgang am Montag ist bei den Insassen der Abteilung Alter & Gesundheit auch deshalb beliebt, weil er die Möglichkeit bietet, bei einem internen Kiosk für die Strafgefangenen zusätzlich ein paar kleine Dinge zu kaufen: Zigaretten, Zeitungen, Schokolade, Kaugummis.
Hans Stettler will sich heute eine Stange Zigaretten kaufen, ein «10er Päckli» für 55 Franken. Er erhält von der Strafanstalt für seine Schnitz- Leim- und Feilarbeiten ein Pekulium von 19 Franken pro Tag und kann sich davon ab und zu etwas zur Seite legen. Ein Gericht in Europa, das zum Schutz und Erhalt der Menschenrechte geschaffen wurde, hat vor ein paar Jahren entschieden, dass Hans Stettler trotz seines fortgeschrittenen Alters im Strafvollzug arbeiten muss. Der Strafvollzug kennt für Verwahrte kein Rentenalter und keinen Ruhestand.
Hans Stettler - verwahrt - muss trotz seinen 75 Jahren arbeiten, um Haftschäden entgegenzuwirken.
Aufgrund seiner chronischen Rückenbeschwerden muss sich Hans Stettler zurzeit mit einem Rollator fortbewegen und der Weg zum Kiosk der Gefangenen im Hof ist entsprechend beschwerlich. Hans Stettler hat deshalb seine Brieftasche einem Mithäftling anvertraut, der sich bereit erklärt hat, für ihn am Kiosk Schlange zu stehen und die Stange Zigaretten zu erwerben. Hans Stettler ist froh über die Hilfe des Mitgefangenen und er dankt ihm herzlich, als dieser kurze Zeit später mit seiner Brieftasche und der Stange Zigaretten zurückkehrt und ihm die beiden Gegenstände überreicht.
Eine Aufseherin, welche die Übergabe der Brieftasche und der Zigaretten beobachtet hat, kommt nun strengen Schrittes auf Hans Stettler zu. Sie hat keine Mühe, den alten Mann mit dem Rollator einzuholen. Selbstsicher erläutert sie Hans Stettler, dass Rechtsgeschäfte unter Gefangenen verboten seien und verweist auf die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt Pöschwies (HO PöW). Gemäss § 27 der HO PöW sind Rechtsgeschäfte unter Gefangengen, wie beispielsweise Kauf, Tausch, Schenkung, Ausleihe von Gegenständen und Gewährung von Darlehen, untersagt. Die Anstaltsdirektion kann Ausnahmen gestatten, wenn dies im Interesse aller Beteiligten liegt. So wird die Stange Zigaretten vor den Augen des perplexen Hans Stettler von der strengen Aufseherin konfisziert - die Zigaretten sind weg, die 55 Franken sind ebenfalls weg. Worin das verbotene Rechtsgeschäft beim Erwerb der Zigaretten bestanden haben soll, wird nicht erläutert und scheint auch niemanden zu interessieren. Hans Stettler ist zuerst verdutzt, dann aufgebracht und versucht sich zu erklären, Wut spürt er nach alle den Jahren keine mehr. Hans Stettler erhält überdies noch eine Busse von 100 Franken und er könne – so erläutert ihm die Aufseherin selbstgefällig die Rechtslage – froh sein, dass er nicht noch strenger bestraft worden sei und keinen Arrest erhalten habe.
Ein Rekurs gegen die Konfiszierung der gekauften Zigaretten und die Busse – so die jahrelange Erfahrung von Hans Stettler – ist chancen- und deshalb sinnlos. Er erwähnt den Vorfall seinem Rechtsanwalt gegenüber erst, als die Rekursfrist längst abgelaufen ist. An diesem Montag kehrt Hans Stettler konsterniert und ohnmächtiger als üblich in seine Zelle zurück. Glücklicherweise kann er am Nachmittag wieder an seiner Holzfigur, die schon richtig schön geworden und bald fertig ist, herumschleifen und sich dabei etwas ablenken.
Der Nebel in Regensdorf bleibt in den darauffolgenden Tagen besonders hartnäckig und zäh. Es dauert lange, bis sich die Sonne wieder ein wenig zeigt. Hans Stettler ist dem Nebel in Regendorf mittlerweile entkommen, er ist in das Zentralgefängnis in Lenzburg, in die Abteilung 60plus, verlegt worden. Ob der unerträgliche Nebel dort weniger dicht ist, ist ungewiss, genauso wie der Umstand, ob Hans Stettler die Sonne jemals wieder sehen wird.
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