Strafe definieren 1: Was nicht funktioniert

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Strafe definieren 1: Was nicht funktioniert

M. A. Niggli

Strafe zu definieren, ist aus der Mode gekommen, obwohl es bitter nötig wäre, denn welchen Regeln sollten Täterschaft, Teilnahme, Versuch, Rechtfertigung oder Verjährung folgen? Eine Zusammenstellung der wichtigsten Fehlversuche.

53Fragt man danach, was eine Strafe sei, so erhält man in der Regel mindestens drei voneinander abweichende Antworten. Eine bezieht sich auf den Zweck der Strafe, eine zweite auf die Ethik, und die dritte schliesslich – weniger wagemutig – auf die Autorität, namentlich die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zum Begriff der strafrechtlichen Anklage. Alle drei sind Nicht-Antworten.

Ziele und Zwecke

Ebenso lange wie fruchtlos streiten wir darüber, ob für die Definition der Strafe ihre Gründe massgeblich sind (Weshalb strafen wir?) oder ihre Ziele und Zwecke (Wozu strafen wir?). Das eine nennen wir absolute Theorien, das andere relative. Das eine ist auf Gerechtigkeit orientiert, das andere auf Prävention (und damit letztlich auf Sicherheit). Nicht selten werden beide Positionen gleichzeitig vertreten, was dann «Vereinigungstheorie» heisst, zu Inkonsistenzen führt und eigentlich alles erlaubt. Dieser Streit soll uns hier nicht kümmern, da er ohnehin ergebnislos bleiben wird, solange wir nicht wissen, ob sich Ziele und Zwecke zur Definition einer Sache überhaupt eignen. Ganz unabhängig davon, ob und welchen Zweck man der Strafe zuschreibt, lässt sich die Tauglichkeit von Zielen & Zwecken zur Definition einer Sache prüfen. Tut man das, so wird offensichtlich, warum der Streit nicht zu entscheiden ist.

Ziele und Zwecke nämlich sind den Dingen nicht inhärent, sie ergeben sich nicht aus ihnen oder ihrer Natur (sog. Entelechie), sondern müssen ihnen eingeschrieben werden (wozu dient ein Wal oder ein Känguruh?). Im Wesentlichen spiegeln sie die Vorlieben desjenigen, der sie vorbringt (sind also beliebig) bzw. zeigen seine Position an. Wer vorbringt, ein Nachtessen habe die Nahrungsaufnahme zum Ziel/Zweck, der sagt damit, dass er möchte, dass es diesem Ziel und Zweck diene. Zur Definition eines Begriffs und damit auch zur Definition von Strafe taugen deshalb Ziele und Zwecke nicht. Alles, wirklich alles hängt davon ab, welcher Zweck behauptet wird, gleichzeitig ist eine Überprüfung dieser Behauptung mittels davon unabhängiger Kriterien nicht möglich. Daher ist die Aussage, etwas diene einem bestimmten Zweck, immer richtig und gleichzeitig auch immer falsch. Es handelt sich also um einen Glaubenssatz.

Am Beispiel: Was will der Läufer bei einem Schachspiel? Welches Ziel hat er, wenn er den Turm bedroht? Will er ihn schlagen oder nur binden? Welchem Zweck dient ein Schachspiel überhaupt? Oder allgemeiner: Welchen Zweck hat das Leben?

Wird die Strafe als Instrument verstanden, so lässt sie sich zudem über ihr Ziel von anderen Instrumenten kaum unterscheiden. Geht es um konkrete Ziele wie etwa die Verhinderung zukünftigen kriminellen Verhaltens (Prävention), lassen sich diese Ziele genau so gut mit Massnahmen erreichen wie mit Strafen, wenn nicht gar besser. Solange sie andauern, verunmöglichen Freiheitsstrafe und Sicherungs­ver­wahrung 54einen Rückfall gleichermassen. Der Entzug der Fahrerlaubnis oder die Einziehung eines Fahrzeuges «verhindern» erneute Verkehrswiderhandlungen genau so gut wie Strafen. Ein empirisch überzeugender Nachweis ihrer Wirkungen wird deshalb kaum je gelingen. Was Strafen von Massnahmen unterscheidet, ist weniger ihre äusserlich wahrnehmbare Wirkung, als ihr unterschiedliches Verhältnis zur Willensfreiheit. Strafen setzen notwendig eine Entscheidung des Betroffenen voraus, Massnahmen dagegen nicht. Begriffsnotwendig sind Strafen essentiell freiheitsorientiert, weshalb sie – bis zum Beweis des Gegenteils – Willens- und Handlungsfreiheit schlicht unterstellen. Massnahmen dagegen sind gekennzeichnet durch ein fundamentales Misstrauen individuellen Entscheidungen gegenüber, sofern sie deren Existenz überhaupt zugeben. Massnahmen wollen solche Entscheidungen denn auch nicht abwarten, sondern möglichst umgehen oder gar verhindern.

Über die Ziele und Zwecke, die angestrebt werden, lassen sich Strafen daher von anderem staatlichen Handeln nicht wirklich unterscheiden. Zudem werden häufig mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt, was diese Unbestimmtheit noch vergrössert. Als Faustregel kann höchstens gelten, dass je konkreter das angestrebte Ziel, umso eher eine Massnahme vorliegt. Wo etwa Sicherheit (einer Strasse, eines Quartieres, einer Gegend, einer Personengruppe etc.) angestrebt wird, dort werden typischerweise konkrete Massnahmen (Polizeikontrollen, Vorhängeschlössern u. dgl. mehr) deutlich erfolgreicher sein als Strafen. Je konkreter also das angestrebte Ziel, desto weniger kommt eine Strafe in Betracht. Das aber reicht zu ihrer Definition natürlich nicht aus. Und dass sie – anders als andere Massnahmen – nichts durchsetzt, sondern umgekehrt erst auf den Regelbruch und damit das Misslingen der Durchsetzung reagiert, ist eben kein Ziel, sondern eine Beschreibung.

Am Beispiel: Was eine sog. «verwaltungsrechtliche punitive Sanktion» von einer Strafe unterscheiden sollte, bleibt unerfindlich. Die Verwaltungsrechtslehre gibt zwar zu, dass damit nichts unmittelbar durchgesetzt wird. Normen sollen damit aber mittelbar «durchgesetzt» werden, indem die Sanktion den Betroffenen motiviert, sich zukünftig pflichtgemäss zu verhalten. Der Betroffene bleibt also weiterhin frei, über sein Verhalten zu bestimmen. Seine und nur seine Entscheidung bleibt massgeblich. Sie soll zwar beeinflusst, aber eben nicht ersetzt werden. Natürlich kann man so etwas als «Durchsetzung» bezeichnen, doch wird damit ein deskriptives Merkmal zu einem normativen gemacht.

Der Begriff der «Durchsetzung» verliert damit jeglichen Gehalt. Bloss «mittelbar » dient eben praktisch alles der Regeldurchsetzung, selbst die zehn Gebote.

Weil sie auf einen Regelbruch reagiert, ihn also voraussetzt, kann eine Sanktion, auch eine verwaltungsrechtlich punitive Sanktion, die Regel gar nicht durchsetzen, sie kann höchstens ihre Befolgung anstreben. Mit «mittelbarer Durchsetzung» wird also nichts anderes gemeint, als dass Regelbefolgung Ziel und Zweck der Sanktion sei. Wer eine verhängte Sanktion als Durchsetzung zukünftiger Regelbefolgung versteht, widerspricht sich notwendig selbst. Bezweckt eine Sanktion die zukünftige Regelbefolgung, so ist sie nur dort legitim, wo sie versagt, d.h. die Regel nicht eingehalten wird. Ist die Sanktion dagegen erfolgreich, wird die Regel also eingehalten, so ist die Sanktion unnötig und illegitim, denn was befolgt wird, muss und kann nicht durchgesetzt werden. Der Begriff der «Durchsetzung» verliert damit jeglichen Gehalt. Bloss «mittelbar» dient eben 55praktisch alles der Regeldurchsetzung, selbst die zehn Gebote.

Das lässt sich auch nicht durch die kindliche Unterscheidung von «echten» und «unechten» Strafen retten, weil das eben gar keine Unterscheidung, sondern bloss eine Bezeichnung darstellt. Wie anderswo auch dient die Kategorisierung echt/unecht entweder dazu (1), Dinge unterschiedlich zu bezeichnen, für deren Unterscheidung kein wirkliches Kriterium besteht (echte Männer etc.), oder sie wird gerade umgekehrt verwendet (2), um Dinge derselben Kategorie zuzuordnen, zu der sie eigentlich nicht gehören (so ist das unechte Unterlassungsdelikt natürlich kein Unterlassungsdelikt, sondern ein Begehungsdelikt, das auch durch Unterlassen erfüllt werden kann). Die Unterscheidung echt/unecht ist also nichts anderes als eine Wertung, die sich als Klassifikation ausgibt.

Hellhörig machen sollte schliesslich, dass Ziele und Zwecke im nationalsozialistischen Rechtsverständnis hochwillkommene Argumente waren, eben weil sie den Dingen beliebig einschreibbar sind und sie damit denjenigen, der die Einschreibung vornimmt, in keiner Weise binden. Und dass der finale Handlungsbegriff (Handlung ist, was einen bestimmten Zweck verfolgt) auf Hans Welzel zurückgeht, einen doch sehr überzeugten Nationalsozialisten, überrascht ebenfalls nicht.

Kurz gesagt, mittels Zielen und Zwecken lässt sich eine Strafe nicht definieren und von anderen staatlichen Massnahmen unterscheiden.

Ethik

Der Bezug zur Ethik hilft ebenfalls nicht weiter. Denn er muss notwendig unterstellen, es gebe von der Ethik losgelöste Reaktionen auf menschliches Verhalten, von denen sich die Strafe aufgrund ihres ethischen Gehaltes unterscheide. Das dumme Gerede vom «sozial»ethischen Gehalt der Strafe ebenso wie die Misere der Rechtsgutstheorie sind direkte Folgen dieses Ansatzes. Selbstredend gibt es so etwas wie eine «Individual»ethik ausserhalb der protestantischen Theologie (des späten 19. Jahrhunderts) überhaupt nicht. Alleine die Tatsache, dass ein Steuerbetrug (Art. 186 DBG) sich ethisch doch nicht von einem kommunen Betrug (Art. 146 StGB) unterscheiden kann, sollte eigentlich genügen zum Beleg der Unhaltbarkeit.

Das dumme Gerede vom «sozial»ethischen Gehalt der Strafe ebenso wie die Misere der Rechtsgutstheorie sind direkte Folgen dieses Ansatzes.

Auch die Rechtsgutstheorie hilft unglücklicherweise nicht weiter. Zum Einen, weil sie längst von der Orientierung auf individuelle Gütern und Schädigungen gelöst wurde, sondern heute auch und v.a. «Güter» der Allgemeinheit beschlägt, die weder konkret fassbar, noch nachzuweisen sind, weshalb sie nach Belieben erfunden und als Begründung der Strafe angeführt werden können. Zum Anderen, weil nicht mehr nur tatsächliche Schädigungen dieser bereits vagen Güter der Allgemeinheit anerkannt sind, sondern bereits deren blosse Gefährdung, und zwar sogar dort, wo eine «Gefährdung» bloss abstrakt besteht, d.h. also gerade nicht vorliegt.

56Behindert wird eine Abgrenzung der Strafe über die Ethik zudem dadurch, dass (wohl unter dem puritanischen Einfluss des angelsächsischen Rechtskreises) Strafrecht zunehmend als Polizeirecht verstanden wird, d.h. als Verhaltenssteuerung. Jede Verhaltenssteuerung muss sich zwingend auf die Ethik beziehen (Was ist gut und richtig?), selbst Verhaltenssteuerung über die – scheinbar der Ethik entgegenstehende – Ökonomie (Was soll welchen Preis haben?). Verhaltenssteuerung lässt sich verstehen als angewandte sie antwortet auf die Frage, was für die Gemeinschaft angestrebt wird oder nicht. Wird dem Strafrecht eine verhaltenssteuernde Wirkung oder zumindest ein solches Ziel eingeschrieben, so lässt es sich damit von anderem Recht durch den Bezug zur Ethik nicht mehr unterscheiden. Soweit Ehe- und Kindesrecht, Vertrags- und Gesellschaftsrecht etc. verhaltenssteuernde Wirkung zugeschrieben wird, gilt für sie natürlich dasselbe: Sie sind angewandte Ethik. Dass die Zuschreibung solcher verhaltenssteuernder Wirkungen völlig falsch ist und allen empirischen Erkenntnissen widerspricht, ändert am notwendigen Bezug zur Ethik überhaupt nichts. Weil mithin alle Verhaltenssteuerung immer und notwendig einen Bezug zur und eine Basis in der Ethik hat, lässt sich darüber Strafe nicht definieren und abgrenzen.

Am Beispiel: Der EGMR behauptet gelegentlich (EGMR, Jussila c. Finnland vom 23. November 2006, Nr. 73053/01; EGMR, Grande Stevens u.a. c. Italien vom 27. Mai 2014, Nr. 4455/10), bestimmten Bussen und Disziplinarstrafen gehe die Stigmatisierung ab, sie enthielten keinen ethisches Unwerturteil, weshalb sie keine Strafen seien. Dass nicht jede Strafe eine strafrechtliche Anklage darstellt und nach einem öffentlichen Verfahren verlangt, sei zugegeben. Was anderes aber als Strafen könnten solche Bussen denn darstellen? Im Fall Jussila wird das im nationalen Recht auch ausdrücklich zugegeben («administrative sanction of a punitive nature imposed on the taxpayer for conduct contrary to law»). Was könnte denn eine «administrative Sanktion mit strafendem Charakter für rechtswidriges Verhalten des Täters» wohl sein? Schadenersatz? Wiedergutmachung? Genugtuung? Aufwandsentschädigung? Zweifellos eine Strafe, nur eben keine, die ein öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen Gericht verlangt, also keine strafrechtliche Anklage. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass sich der ethische Gehalt einer Busse von 308 Euro von demjenigen einer anderen Strafe unterscheide. Dass sich dieser Bussenbetrag von anderen und diese Busse von anderen Strafen unterscheidet, ändert an ihrem Charakter als Busse nichts. Wer den Fehler begeht, Strafe und strafrechtliche Anklage gleichzusetzen und als «Strafe» nur «strafrechtliche Anklagen» zu verstehen, die sich von anderen «Sanktionen» laut EGMR durch ihren ethischen Gehalt unterscheiden, der ist genötigt zu behaupten, eine Schweizer Parkbusse von 40 CHF enthalte einen ethisch schwerwiegenderen Vorwurf als eine finnische «Administrativsanktion mit Strafcharakter» von 308 Euro. Denn selbstverständlich ist die Schweizer Busse (noch) eine Strafe.

EMRK

Die dritte Antwort auf die Frage, was eine Strafe sei, bezieht sich auf Autorität bzw. den EGMR und seine Rechtsprechung. Auch dies leider eine Nicht-Antwort. Ein Gericht kann weder den allgemein gebräuchlichen, noch den philosophischen Begriff der Strafe gültig definieren. Gleiches gilt für den Begriff der Strafe im Recht.

Bestimmtheitsgrundsatz

Dass ein derart zentraler Begriff wie derjenige der Strafe, der sich seit Jahrhunderten im Recht findet, der von Carl Stooss mit seinem Vorentwurf 1894 formuliert und mit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1942 für das gesamte Schweizer Recht gültig festgelegt wurde, erst durch die Praxis eines internationalen Organs definiert werden sollte, ist selbstverständlich ausgeschlossen. Wer für den Begriff der Strafe auf das internationale Recht rekurriert und dessen Vorrang hinweist, verkennt vollständig Bedeutung und Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes, 57denn natürlich leitet sich der Grundsatz nulla poena sine lege nicht von internationalen Erlassen her, sondern von Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833), der ihn zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert hat. Kurz: Art. 7 EMRK leitet sich inhaltlich von Art. 1 StGB her (der unmittelbar auf Feuerbach zurückgeht) und nicht umgekehrt.

Dieser Art. 1 StGB nun bestimmt, dass nur bestraft werden kann, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht. Aus der Perspektive des öffentlichen Rechts wird das nicht selten verengt als Legalitätsprinzip verstanden, mithin als das – dem öffentlichen Recht bestens bekannte – Prinzip, nach welchem staatliches Handeln eine gesetzliche Grundlage benötigt. Das ist in dieser Verengung irreführend, wenn nicht falsch. Es ist nicht nötig, das im Detail hier auszuführen, deshalb nur die Grundzüge: Feuerbach reagiert auf das obrigkeitliche, voraufgeklärte Strafrecht des 18. Jahrhunderts und verlangt als guter Schüler Immanuel Kants (1724–1804), dass eine Strafe auf eine Entscheidung des Täters reagieren müsse. Das setzt voraus, dass der Bestrafte überhaupt wissen konnte, wie er sich verhalten soll. Dazu aber muss nicht nur die Regel fixiert sein, sondern auch die Folge des Regelbruches. Das Bestimmtheitsgebot umfasst daher logisch zwingend nicht nur das Legalitätsprinzip, sondern gleichermassen Rückwirkungsverbot, Schuldprinzip und den numerus clausus zulässiger Strafarten. All dies verlangt Art. 1 StGB.

Funktion und Bedeutung des Begriffes werden leicht erkennbar in Art. 333 Abs. 1 StGB, der bestimmt, dass die Regeln des Allgemeinen Teiles des StGB (Art. 1 bis 110) auf alle Taten Anwendung finden, die in anderen Bundesgesetzen (also anderen Gesetzen als dem StGB selbst) mit Strafe bedroht sind, soweit sie nicht selbst Bestimmungen aufstellen. Gesetzestechnisch dient der Begriff der Strafe also dazu, die wesentlichen Voraussetzungen und Strukturen einer Bestrafung zu regeln, damit das nicht jeder Erlass aufs Neue tun muss. Die Funktion des AT StGB ist also derjenigen des AT OR vergleichbar.

Wer fälschlicherweise behaupten wollte, der Begriff der Strafe werde von der EMRK vorgegeben, der würde damit auch behaupten, der Anwendungsbereich des Schweizer AT StGB werde davon bestimmt. Er würde sagen, dass die EMRK darüber entscheide, ob die Regelungen des StGB betreffend Vorsatz und Fahrlässigkeit, Verjährung, Versuch, Teilnahme oder Rechtfertigung anwendbar sind oder nicht, und dass dort, wo sie es nicht sind, Regelungen erst neu erfunden werden müssten. Selbstverständlich tut die EMRK nichts von alledem. Sie stellt nicht auf den Begriff der Strafe ab, sondern auf denjenigen der strafrechtlichen Anklage. Die beiden Begriffe sind indes weder deckungsgleich, noch haben sie dieselbe Funktion (vgl. M. A. Niggli, Strafrecht & strafrechtliche Anklage, ContraLegem 2018/2, 49-52). Dass sich der Begriff der Strafe nicht von demjenigen der strafrechtlichen Anklage herleiten kann, wird schon daran deutlich, dass die Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK jedenfalls gelten, wenn das nationale Recht etwas nur schon als Strafe bezeichnet. Die blosse Bezeichnung im nationalen Recht führt zur Qualifikation als strafrechtliche Anklage, definiert also deren Anwendungsbereich jedenfalls teilweise (und nicht umgekehrt!). Es kann sich der Begriff der Strafe gar nicht von der EMRK oder der strafrechtlichen Anklage ableiten. Der Begriff der strafrechtlichen Anklage kann also denjenigen der Strafe sicherlich nicht einschränken, höchstens erweitern.

Mit Sicherheit schliessen lässt sich einzig, dass sich aus der Bezeichnung einer Sanktion für den Begriff der Strafe nichts ableiten lässt, wenn alles als Strafe Bezeichnete jedenfalls eine strafrechtliche Anklage darstellt, aber nicht nur das.

Strafrechtliche Anklage

Um die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK zu beantworten, muss der EGMR die Frage beantworten, was eine «strafrechtliche 58Anklage» sei. Der Gerichtshof fragt also danach, ob über eine Anklage «von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt» (Art. 6 Abs. 1 EMRK) werden soll.

EMRK und EGMR bieten keine Definition von «Strafe», sondern nur eine der «strafrechtlichen Anklage».

Der Begriff der «strafrechtlichen Anklage» ist ein verfahrensrechtlicher Begriff. Wie bereits aus der Formulierung überdeutlich wird, beschlägt er keine anderen Aspekte und Bedingungen von Strafe, wie etwa Bestimmtheitsgebot oder Unschuldsvermutung, die auch die EMRK selbst in anderen Bestimmungen regelt (Art. 7 und Art. 6 Abs. 2 EMRK). Dasselbe gilt – nur umso mehr – für die andere Aspekte wie Versuch, Teilnahme oder Rechtfertigung etc., die Art. 1 regelt und 333 StGB für das übrige Recht für anwendbar erklärt.

In der prozessualen Ausrichtung des Begriffs der «strafrechtlichen Anklage» liegt denn auch der Grund für die Einschränkungen durch den Gerichtshof. Dass nach der Strassburger Praxis z.B. Disziplinarstrafen nicht als «strafrechtliche Anklage» gelten, ist nur verständlich, wenn bei solchen Strafen ein unabhängiges, unparteiisches Gericht und ein öffentliches Verfahren nicht unbedingt angemessen oder unabdingbar erscheinen. Das allerdings trägt zur Beantwortung der Frage, ob es sich dabei um Strafen handelt, überhaupt nichts bei. Alleine die Tatsache, dass wir von «Disziplinarstrafen» sprechen, sollte aufhorchen lassen und führt zur Qualifikation als strafrechtliche Anklage.

Am Beispiel: Was anderes als eine Strafe könnte ein militärischer Arrest sein, nach dem Militärstrafgesetz eine Disziplinarstrafe (Art. 186 ff. MStG), die in Einzelhaft vollzogen wird (Art. 190 Abs. 2 MStG). Ob eine solche Disziplinarstrafe eine «strafrechtliche Anklage» darstellt oder nicht, hilft nicht weiter. Ob ein unabhängiges, unparteiisches Gericht in einem öffentlichen Verfahren darüber befinden muss, ändert am Charakter einer Strafe nichts. Wäre wirklich vorstellbar, dass eine Änderung der Bezeichnung von Disziplinarstrafe in Disziplinarmassnahme den Charakter des Arrests als Strafe veränderte?

Der EGMR bietet also gar keine Definition von «Strafe» (und kann dies auch gar nicht tun, weil der EU eben gar keine Strafkompetenz zukommt), sondern nur eine der «strafrechtlichen Anklage». Lässt man einmal die Merkwürdigkeiten beiseite, nach welchen (1) Strafe sich stets an die Allgemeinheit bzw. an alle Personen richten müsse (vgl. dazu bereit M. A. Niggli, Strafrecht richtet sich an die Allgemeinheit? Schrulliges bundesgerichtliches Verständnis von Strafrecht [BGE 142 II 243], ContraLegem 2018/2, 44 f.) und (2) Strafe nur die Freiheitsstrafe und ihre Substitute seien (EGMR, Müller-Hartburg c. Österreich, 19.2.2013, No. 47195/06, Ziff. 44 ff.; zu den beiden Kritierien M. A. Niggli, Strafe definieren 3, ContraLegem, im Erscheinen), so verwendet der Gerichtshof primär die sog. Engel-Kriterien, um den Begriff der strafrechtlichen Anklage bestimmen, um also zu bestimmen, ob die Garantien von Art. 6 EMRK anzuwenden sind. Nach diesen Kriterien gilt eine staatliche Reaktion als Strafe, die (1) vom betreffenden Staat so qualifiziert wird, oder die (2) nach der Art und Schwere als Strafe erscheint, oder (3) deren «wahre Natur» («the very nature») die Bestrafung ist. Das erste dieser Kriterien haben wir eben erläutert. Ganz analoges gilt für das letzte Kriterium, also die 59«wahre Natur», die nach dem Zweck einer staatlichen Reaktion fragt.

Wie erläutert sind Zwecke den Dingen aber nicht inhärent, sondern müssen ihnen eingeschrieben werden. Ob eine staatliche Massnahme Repression oder Prävention bezweckt, Ausgleich begangenen Unrechts oder Verhinderung zukünftiger Gefahren, ist ebenso eine Frage der Auslegung, wie diejenige, ob sie allgemeine öffentliche Interessen verfolgt. Stellt man auf Zwecke ab, so ist notwendig immer die Vorstellung desjenigen massgeblich, der diese Zwecke im fraglichen staatlichen Handeln angestrebt bzw. verwirklicht sieht. Gerade bei Strafen wird (je nach Straftheorie, die man vertritt) eine Vielzahl von Zwecken gleichzeitig geltend gemacht und Prävention (also die Verhinderung zukünftigen Unrechts) häufig zumindest auch als ihr Ziel und Zweck verstanden. Damit lässt sich also eine Strafe von anderen Massnahmen nicht unterscheiden. Auch muss – so hoffen wir jedenfalls – in einem Rechtsstaat jeder Eingriff des Staates in die Grundrechte seiner Bürger (also auch eine rein verwaltungsrechtliche Massnahme) im öffentlichen Interesse liegen. Weder der Zweck einer staatlichen Verfügung, noch das öffentliche Interesse daran helfen also weiter.

Unglücklicherweise gilt nun dasselbe auch für das letzte Kriterium, das der EGMR zur Definition der strafrechtlichen Anklage verwendet: Art und Grad des angedrohten bzw. zugefügten Nachteils. Aus der Schwere dieses Nachteils nämlich will der EGMR ableiten, dass es sich um eine Strafe handle bzw. bei fehlender Schwere eben das Gegenteil. Das aber sollte nun wirklich den letzten Zweifler überzeugen, dass Strafe und strafrechtliche Anklage nicht dasselbe sind. Denn wer mit dem EGMR nach dem Vorliegen einer «strafrechtlichen Anklage» fragt, fragt danach, ob ein öffentliches Verfahren vor einer unabhängigen Instanz notwendig sei. Nun mag es hingehen, dies für Kleinigkeiten zu verneinen, wenn der entsprechende Aufwand unverhältnismässig scheint. Zur Frage aber, ob es sich dabei um eine «Strafe» handelt (und davon abhängig wie Vorsatz und Fahrlässigkeit, Verjährung, Versuch, Teilnahme oder Rechtfertigung zu regeln wären) kann das Kriterium der Schwere des zugefügten Nachteils doch nichts beitragen. Die Bedingungen des Vorsatzes oder der Rechtfertigung sind nicht unbedeutender oder einfacher dort, wo ein kleiner «Nachteil» angedroht wird. Häufig gilt gerade das Gegenteil. Und ob die Verjährungsregeln nach Art. 97 ff. StGB gelten oder nicht, lässt sich eben beim besten Willen und auch mit viel Phantasie nicht aus der EMRK herleiten. Es kann sicherlich nicht davon abhängen, ob ein grosses oder ein kleines Übel angedroht wird. Damit sind wir also mit unserer Frage, was denn eine Strafe sei, wieder auf uns selbst zurückgeworfen.

EMRK als Reduktion von Garantien?

Fragt man bei einer Sanktion, die vom nationalen Gesetzgeber nicht als Strafe bezeichnet wird, ob sie eine Strafe darstelle, so beantwortet, wer auf die EMRK abstellt, nicht die gestellte, sondern eine ganz andere Frage, nämlich diejenige nach der Qualifikation als strafrechtliche Anklage. Soll die Frage klären, welche Regeln etwa für Versuch, Rechtfertigung, Mittäterschaft oder Verjährung gelten, so ist das mit dieser Antwort nicht zu erreichen (als abstossendes Beispiel sei nur die Frage der Verjährung im Kartellrecht erwähnt).

Wollte man das tatsächlich vertreten, so würde es bedeuten, dass es der nationale Gesetzgeber in der Hand hätte, über die Bezeichnung der Sanktion, den gesamten AT StGB zu umgehen bzw. auszuhebeln. Damit wären – entgegen Art. 1 StGB und seinem Verfassungsrang – nicht nur die Regelungen über Versuch, Zurechnungsfähigkeit, Teilnahme, Rechtfertigung oder Verjährung unbeachtlich, sondern namentlich auch Bestimmtheitsgebot, Rückwirkungsverbot sowie der numerus clausus möglicher Strafarten. Die Berufung auf die EMRK würde also ermöglichen, schwammige Normen mit unbestimmten Sanktionen zu verknüpfen, die nach Belieben 60erfunden und zudem rückwirkend angewendet werden dürften. Kurz, die Berufung auf die EMRK würde erlauben, die Rechte der Betroffenen in krasser Weise zu mindern oder gar aufzuheben. Bestimmtheit und Rechtsschutz würden nicht gestärkt, sondern massiv verringert. Das kann nicht richtig sein.

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Strafe definieren 1: Was nicht funktioniert, M, ContraLegem 2021/2, S. 53-60
Marcel Alexander Niggli
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