Vorschlag einer Revision von Art. 10 Abs. 1 StPO

Peter AretinVorschlag einer Revision von Art. 10 Abs. 1 StPOMContraLegem202125052

Vorschlag einer Revision von Art. 10 Abs. 1 StPO

Peter Aretin

50Machen wir es kurz: “the times they are a-changing”. Die Schweizerische Strafprozessordnung, sei sie formell noch so jung, so dass sie dieses Jahr ihr Zehnjähriges feiert (Applaus, die meisten Beziehungen haben eine kürzere Haltbarkeit!), basiert auf Grundsätzen, welche einer anderen Zeit anhängen. Einer Zeit ohne Internet, ohne Digitalisierung, einer langsameren Zeit, in der das geschriebene Wort (und Recht) noch Gegenstand komplizierter Gedanken und Überlegungen gewesen ist. Für diese Komplexität haben wir nun wirklich keine Zeit mehr, die Zeiten ändern sich (permanent, Gruss an Heraklit, dieser Artikel wird, wenn Sie geehrter Leser (m/w/d) an sein Ende gelangen sollten, schon ein stückweit veraltet sein, also beeilen Sie sich bitte) und haben sich seit der Konstituierung strafprozessualer Grundsätze im 19. und 20. Jahrhundert schon sehr geändert. 

Wir leben in einer Mediengesellschaft und die sogenannten Sozialen Medien (Frage: was sind eigentlich asoziale Medien?) erlauben jedermann aktiv durch das «Posten» von Artikeln, Meinungen oder auch nur Emojis die Teilnahme am öffentlichen Meinungsbildungsprozess, wie es sonst nur auf der Agora, dem Forum Romanum oder weniger weltgeschichtlich relevant (aber deshalb nicht minder unwichtig) auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell Innerhoden möglich war und ist. Kritische Stimmen (Buh!) mögen nun einwenden, dass dies nur scheinbar der Fall sei, die Flagellanten-like selbstauferlegte Zensur von Facebook, Twitter etc. zeigt deutlich, dass nur Gehör im Sozialen Medienwald findet, wessen Echo den Herren Zuckerberg und Dorsey in den Kram, sprich ins Business passt (Mr. Trump kann bezeugen, dass dies keine Fake News sind). Diesen Kritikern (Buh!) sei mitgeteilt, dass die Trennung von Seiendem und Scheinenden längst durch die Digitalisierung überwunden ist. Wozu die Höhle verlassen und die Sonne sehen, wenn man viel Spass mit den verführerischen Schatten haben kann und die wahre Sonne neuerdings mit Bildbearbeitungssoftware fast lebensecht in eben dieser Höhle abbildbar ist?

Die Schweizerische Strafprozessordnung soll nur – aber immerhin – noch prüfen, ob die medial ausgetragenen Vorwürfe, Untersuchungen und Sanktionen gerechtfertigt gewesen sind.

Im Dunkeln lässt sich gut munkeln und zum Teufel mit Brecht und seinem Licht. Mit der längst überwundenen Postmoderne mit ihrem Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus und 51ihrer Diskursanalyse sind auch diese lästigen Gedankenspiele überwunden. Wie auch in den Sachen der Liebe haben es sich die Franzosen in der Gesellschaftsphilosophie zu kompliziert gemacht, denn es ist ehrlich gesagt sehr simpel: Alles gilt und gilt nicht. Das wusste schon Einstein und was für die Physik gilt, kann endlich auch im gesellschaftlichen Miteinander gelebt werden. Quanten Baby, Quanten.

Aber zurück zum Geburtstagskind: Ein Beharren auf einen Prozess, der von sich aus den Anspruch erhebt, eine (ob materiell oder nicht sei mal dahingestellt) Wahrheit zu suchen (cf. Art. 139 Abs. 1 StPO), und von der Unschuld einer Beschuldigten Person solange ausgeht, bis ein Gericht (und nur ein solches, so old, so boring, so non-digital) zu einer auf Fakten und Rechtsanwendung basierten Verurteilung gelangt, ist ein Beharren Ewiggestriger auf ewiggestrigen Prinzipien. Bevor, geehrter Leser (m/w/d), Sie nun in Panik geraten und hier subversive Tendenzen ausmachen, durch die Abschaffung rechtstaatlicher Prinzipien eine Revolution anzetteln zu wollen, bitte ich Sie weiterzulesen (schnell jedoch, siehe oben, die Zeit drängt).    

So wie man eine Beziehung nicht an ihrem Jahrestag beendet, so soll auch die Schweizerische Strafprozessordnung in ihrem Jubiläumsjahr nicht abgeschafft werden. Sie soll jedoch eine neue, der «realen» Welt mehr entsprechende und die gesellschaftlichen Realitäten klarer widerspiegelnde Funktion erhalten. Die Idee der StPO liegt darin, einen Vorwurf, der einer Beschuldigten Person gemacht wird, prozessual zu bestätigen oder zu entkräften. Der Vorwurf, wenngleich weder im Schweizerischen Strafgesetzbuch noch in der Schweizerischen Strafprozessordnung je explizit erwähnt, ist der Kern des Strafrechts und der daraus herzuleitenden Strafe. In einer Mediengesellschaft wird aber der rechtsbasierte Umgang mit dem Vorwurf zu einem Problem, weil das Volk und die Medien (oder das Volk durch die Medien? Oder waren es die Medien durch das Volk? Oder waren es einfach nur die Medien? Egal.) den Vorwurf schon unkompliziert, leicht für jedermann fassbar und sexy formulieren. Nun können Kritiker (Buh!) einwenden, dass genau dies die Aufgabe des Strafrechts wäre, einen Vorwurf eben unabhängig vom populistischen und medialen Aufschrei zu prüfen. Nice try, try again. In einer Mediengesellschaft folgt dem Vorwurf sogleich die (fairerweise muss man sagen manchmal etwas schlampige) Untersuchung und die Sanktion, eben alles vereint in den Medien (Herr Kachelmann, das Wetter bitte). Dass dies problematisch ist, wissen wir seit Torquemada, aber während es damals eben ein Einzelner oder eine nicht demokratisch legitimierte Institution gewesen ist (Psst, Gott hört zu), findet die Vereinigung von Vorwurf, Untersuchung und Sanktion nun durch Volkesstimme in den Medien statt. Selbst Radbruch müsste hier seine Waffen strecken, mehr demokratische Legitimation gibt es nur in Nordkorea.

Von daher der folgende Vorschlag: Basierend auf dem Konzept von Liliom N. sei die Schweizerische Strafprozessordnung nicht mehr zur Untersuchung eines Vorwurfes zu verwenden, sondern zur Untersuchung eines Nachwurfes. Anders gewendet: Die Schweizerische Strafprozessordnung soll nur – aber immerhin – noch prüfen, ob die medial ausgetragenen Vorwürfe, Untersuchungen und Sanktionen gerechtfertigt gewesen sind. Sind sie es, so kann sie im Zuge einer vom Bund forcierten Digitalisierungsoffensive einfach den Namen der Beschuldigten Person online «posten», versehen mit diesem Emoji (hautfarbenneutral in gelb, jegliche Verbindung zu spätrömischer Praxis im Kolosseum ist ungewollt):

Lamp

Sollten hingegen die medial ausgetragenen Vorwürfe, Untersuchungen und Sanktionen gegen die Beschuldigte Person aus irgendeinem Grund falsch gewesen sein, können die bestehenden Vorgaben der StPO zur Entschädigung für Aufwendungen für die angemessene Ausübung 52von Verfahrensrechten (sprich: der Berufung auf die StPO), der Entschädigung wirtschaftlicher Einbussen aus der notwendigen Beteiligung am Strafverfahren (über das muss man reden, denn immerhin würde man hier eine monetäre Belohnung zuschreiben für Personen, die das Urteil

Das Gericht überprüft in einem Nachwurfverfahren Schuld und Sanktion einer Person.

der Medien, pardon, des Volkes angefochten haben) und Genugtuung für besonders schwere Verletzungen ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere bei Freiheitsentzug (cf. Art. 429 StPO), problemlos angewendet werden. Die dürfte freilich selten der Fall sein, denn die Medien, pardon, das Volk, irrt nie, aber es muss aus rechtsstaatlichen Gründen doch wenigstens die Möglichkeit der prozessualen Überprüfung des Nachwurfes geben, insbesondere wenn schon der Vorwurf ausscheiden muss. Dass dies mehr Schein als Sein ist, ist kein Problem, siehe oben. Im Ergebnis würde dadurch nicht nur die Effizienz von Verurteilungen steigen, sondern auch die Kosten der Justiz merklich sinken. Eine klassische win-win Situation (wenn man die Beschuldigte Person aus statistischen Gründen nicht miteinbezieht). Art. 10 Abs. 1 StPO würde dann so aussehen:

Art. 10 StPO

1 Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.

1 Das Gericht überprüft in einem Nachwurfverfahren Schuld und Sanktion einer Person. 

Dies also der Vorschlag. Denn wie jede alternde Person so bedarf auch unser Geburtstagkind einer kleinen Kur, um es weiterhin attraktiv und hipp im Glanze der Mediengesellschaft strahlen zu lassen. Weg mit der Komplexität, weg mit den verstaubten Prinzipien, weg mit den langwierigen Prozessen. Es lebe die Einfachheit. An die Kritiker (Buh!), an ewiggestrige Verfechter von ewiggestrigen Prinzipien sei das eingangs zitierte Lied leicht abgeändert gerichtet:

Come Courts and lawyers and law and legal doctrine
Throughout the land
And don’t criticize
What you can’t understand
Your sons and your daughters
Are beyond your command
Your old road is rapidly agin’
Please get out of the new one if you can’t lend your hand
For the times they are a-changin

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Vorschlag einer Revision von Art. 10 Abs. 1 StPO, M, ContraLegem 2021/2, S. 50-52
Peter Aretin
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