Souveränität & Instanzenzug
M. A. Niggli
34Unabhängig davon, welche und wie viele Funktionen man dem Recht zuschreibt (Ordnung, Legitimation, Integration, Steuerung, Gestaltung, Kontrolle etc.), Friedensstiftung bzw. -sicherung gehören sicherlich dazu. Diese Friedenssicherung erreicht das Recht durch eine paradoxe Doppelstruktur: Zum einen stellt es in Aussicht, Unentscheidbares zu entscheiden, gleichzeitig aber hält es seine Entscheidung in der Schwebe.
Recht besteht aus Entscheidung
Das definierende Merkmal des Rechts, sein proprium, sein Kern, sein Spezifikum ist die Entscheidung. Ohne Entscheidung existiert keine Rechtsanwendung, ohne Rechtsanwendung aber gibt es kein Recht. Eine «Regel», die nicht angewendet wird, ist eben keine. Wird Recht angewendet, setzt das immer eine Entscheidung voraus. Dort, wo über die Frage der Anwendung keine Entscheidung notwendig oder möglich ist, besteht kein Recht, sondern Mechanik ( M. A. Niggli/L. F. Muskens, Mechanical Justice, in: V. Bühlmann/L. Hovestadt (eds.): Domesticating Symbols. Metalithikum II. Applied Virtuality Book Series. Vienna 2014: 20-46) . Was eine Maschine kann, kann kein Recht sein, weil eine Maschine nicht entscheidet, sondern Vorgaben folgt, auch wenn diese Vorgaben eventuell höchst komplex sind, oder gar dynamisch und selbstreferentiell. Selbst ein Algorithmus, der «lernt», tut dies eben nach Vorgaben. Er entscheidet nicht. Recht bedingt also Rechtsanwendung, Rechtsanwendung aber besteht aus Entscheidung. Jede Entscheidung in der Sache selbst setzt dabei vorgängig zumindest zwei weitere Entscheidungen voraus, nämlich (1) über die Bedeutung bzw. den Gehalt der in Frage stehenden Regel und (2) darüber, ob die abstrakte Regel auf den konkreten Fall anwendbar sei.
Entscheidung des Unentscheidbaren
Alles, was in einem System entschieden werden kann, wird dort auch entschieden. Deshalb gelangen nur Fragen ins Recht, die in anderen Systemen nicht entschieden werden können. Unentscheidbar sind sie deshalb, weil zumindest zwei gleichwertige und überzeugende Positionen bestehen, die vernünftigerweise vertreten werden können. Im Prinzip gelangt also nur Unentscheidbares ins Recht. Das Recht entscheidet dieses Unentscheidbare, weil es entscheiden muss, sobald es um eine Entscheidung angegangen wird. Aufgabe, Kern und Essenz des Rechtes ist die Entscheidung. Deshalb ist die Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, eine Entscheidung zu fällen, als Option nicht vorgesehen, ja sie wird geradezu als unzulässige Weigerung qualifiziert, als eigentliche Rechtsverweigerung. Einen Ausweg bietet einzig das Konzept der Justiziabilität, also das Argument, dass sich nicht jede Frage durch das Recht entscheiden lasse, denn natürlich kann rechtlich nicht entschieden werden, was sich rechtlich nicht entscheiden lässt. Das Argument mangelnder Justiziabilität verdeckt allerdings, dass die Frage, ob etwas rechtlich entscheidbar sei, selbst wieder eine Entscheidung ist, und zwar eine Entscheidung des Rechts. Insofern ist die Rede von Fragen oder Sachverhalten, die 35nicht justiziabel seien, eben nur eine Rede und das Konzept der Justiziabilität eine Entscheidung, deren Funktion darin besteht, eine Entscheidung zu verweigern, obwohl genau das an sich unzulässig ist.
Obgleich für das Recht die Entscheidung zwingend ist, sie seine eigentliche Leistung und seinen eigentlichen Charakter ausmacht, verändert sich die Unentscheidbarkeit einer Frage durch ihre Transposition in das Recht nicht. Zwei Ursachen lassen sich dabei ausmachen, warum die Hoffnung unerfüllt bleiben muss, Unentscheidbares werde durch das Recht entscheidbar und entschieden.
Nur Rechtsfragen werden entschieden
Recht entscheidet nicht ökonomische, soziale, literarische oder mediale Fragen, es entscheidet also nicht die eigentlichen, tatsächlichen Fragen, die anders nicht zu entscheiden sind, sondern eben Rechtsfragen. Es transformiert die jeweiligen Lebenssachverhalte aus anderen Systemen in seine eigene Grammatik und entscheidet in seiner eigenen Logik, weil es Anderes weder vermag noch versteht. Was nicht in ein Rechtsproblem, in eine Rechtsfrage, in ein Rechtskonzept transformierbar ist, existiert für das Recht nicht, das ist unausweichlich. Diese Transformation ihrer Fragen und Probleme in Rechtsfragen kann für die unmittelbar Betroffenen zeitweilig recht überraschend oder gar unangenehm sein. Dennoch ist gerade sie der Grund, weshalb das Recht überhaupt Fragen entscheiden kann, die in anderen Zusammenhängen nicht entscheidbar sind.
Keine Rechtsentscheidung ist endgültig
Von anderen Entscheidungen unterscheiden sich die Entscheidungen des Rechts in einem zentralen Punkt: Es besteht gegen sie eine ihr vorgehende, bestimmt definierte Möglichkeit der Anfechtung. Entscheidungen des Rechtes sind prinzipiell nicht endgültig, sondern in der einen oder anderen Form anfechtbar (vgl. dazu M. A. Niggli/M. Husmann, Jungleland, ContraLegem 2021/2, 10-19 ). Ist ein Entscheid nicht überprüfbar, also nicht innerhalb desjenigen Systems anfechtbar, in dem er ergangen ist, so besteht systemimmanent gegen ihn kein Behelf. Besteht aber gegen einen Entscheid kein Rechtsbehelf, so ist der Entscheid endgültig. Es handelt sich damit – entgegen seines Anscheins – nicht um einen Rechtsentscheid, sondern um den Ausdruck von Macht, Politik, Hierarchie, Religion oder einfach Wirtschaftlichkeit und Pragmatismus. Das gilt etwa bei Entscheidungen über Sicherheitshaft und Haftentlassung vor dem Berufungsgericht (Art. 232 und 233 StPO), bei Eröffnung einer Strafuntersuchung (Art. 309 StPO) oder Anklageerhebung (Art. 324 StPO), aber auch bei Rechtshandlungen
Ohne Entscheidung existiert keine Rechtsanwendung, ohne Rechtsanwendung aber gibt es kein Recht. Eine «Regel», die nicht angewendet wird, ist eben keine.»
Endgültige Entscheidungen sind unfehlbar richtig
Besteht gegen eine Entscheidung kein Rechtsbehelf, ist sie notwendig richtig, kann sie nicht falsch sein. Denn jede Kritik, jeder Zweifel an 36nicht anfechtbaren (also in diesem Sinne letztinstanzlichen) Entscheidungen, muss sich logisch notwendig auf andere Kriterien beziehen als diejenigen, aufgrund derer die Entscheidung erging. Eine nicht anfechtbare Rechtsentscheidung kann nur unter Berufung auf ausserrechtliche Kriterien überhaupt kritisiert werden. Wer endgültige Entscheidungen fällt, unterscheidet sich strukturell in keiner Weise vom Papst: Wer die Kompetenz hat, endgültige Entscheidungen zu fällen, also Entscheidungen, die nicht anfechtbar sind, ist – im Hinblick auf diese Entscheidung – notwendig unfehlbar. Natürlich wird niemand Richter eines höchsten Gerichtes oder gar Papst, weil er unfehlbar ist, aber umgekehrt wird unfehlbar, wer diese Funktionen ausübt.
Wer (endgültig) entscheidet, ist souverän
Jeder, der eine Rechtsentscheidung trifft, ist souverän zumindest im Hinblick darauf, ob und welche Regel er anwenden will, also im Hinblick darauf, (1) welchen Gehalt eine bestimmte Regel hat und (2) ob der konkrete zu entscheidende Fall darunter zu subsumieren ist. Beide Entscheidungen lassen sich (nur, aber immerhin) korrigieren durch eine Berufung an eine andere Instanz, sofern eine solche Berufung möglich ist. Das aber ändert zwar nichts an der Souveränität desjenigen, der entschieden hat, denn eine Berufungsentscheidung ersetzt bloss eine souveräne Entscheidung durch eine andere.
Wer aber endgültig entscheidet, also derjenige, gegen dessen Entscheidungen keine Möglichkeit einer Anfechtung besteht, der ist nicht nur souverän in seiner Entscheidung, sondern viel weiter und darüber hinaus gehend auch darin, dass er letztlich über das Ende des Rechts entscheidet. Denn wer nicht anfechtbare Entscheidungen fällen kann, unterliegt nicht einer bestimmten Ordnung, sondern bestimmt umgekehrt und unwiderruflich, was diese Ordnung bedeute. Und damit auch, wo sie ende. Denn mit dem Ende der Mehrdeutigkeit, dem Ende des Streites und der Vorläufigkeit, dem Ende der Fehlbarkeit, endet auch das Recht. Höchstrichterliche Entscheidungen machen das überdeutlich. Gleich dem Begehren, das nur unerfüllt existieren kann, weil die Erfüllung gleichzeitig auch notwendig das Ende dieses Begehrens bedeutet, entschwindet das Recht in genau dem Augenblick, in dem es sein Versprechen einlöst, das Unentscheidbare tatsächlich, d.h. endgültig zu entscheiden. Es löst sich auf und gibt die Sache der ursprünglichen Sphäre zurück, spuckt sie quasi aus, lässt sie fallen.
Zu erwähnen bleibt ein letztes Element, eines, das für sich alleine genommen rätselhaft genug erscheint, nämlich der Instanzenzug, also die Tatsache, dass über eine Sache mehrfach entschieden wird. So intensiv und ausführlich die Regelungen selbst und ihre Anwendung erforscht werden, so dunkel ist die Frage nach dem Instanzenzug. Das Phänomen, dass überhaupt die Möglichkeit besteht, gegen eine Entscheidung zu rekurrieren, wird meist nicht reflektiert, sondern als selbstverständliches Merkmal von Gerechtigkeit und Qualität behandelt (bemerkenswerte Ausnahmen bilden Nicolas de Caritat de Condorcet, Réflexions sur la jurisprudence criminelle, Paris 1775 [online hier], sowie Peter D. Marshall, A Comparative Analysis of the right to appeal, Duke Journal of Comparative & International Law, 22, 2011, 1-45 ). Es ist dies aber eine ganz junge Entwicklung, je nach Rechtssystem und Rechtsgebiet teilweise erst gut hundert Jahre alt. Sehr alt dagegen ist die Möglichkeit, gegen die Entscheidung einer Autorität eine andere anzurufen. Dabei allerdings handelte es sich fast ausschliesslich um Strukturen, die eine Gerechtigkeitskorrektur erlaubten, so etwa die Equity im Common Law oder die Appellation an den Kaiser im römischen Recht. Sie ermöglichten die Überprüfung von Entscheidungen, die in mechanischer Anwendung abstrakter Regeln ergingen, ohne die Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen, meist weil der Entscheidende kein entsprechendes Ermessen besass oder der Prozess strikt formalisiert war. Das produzierte notwendig Ungerechtigkeiten, 37weil eben der einzelne Fall entschieden wurde und dieser Fall massgeblich war. Die Möglichkeit einer Korrektur war deshalb ebenso offensichtlich wie unumgänglich. Dagegen ist die Idee, dieselbe Sache grundsätzlich und allgemein mehrmals zu prüfen, sehr jung. Bis ins 18. Jahrhundert war beispielsweise im Inquisitionsprozess die Appellation nicht etwa nur absent, sondern verboten. Dazu bestand kein Anlass. Denn wenn ein Geständnis vorlag, so war damit auch die Wahrheit gefunden. Zu korrigieren gab es daher nichts. Ganz ähnlich will Montesquieu zwar zwei Instanzen zulassen, hält eine dritte aber für ganz überflüssig und qualifiziert sie als Missbrauch (Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu, De l’abus des jurisdictions, Pensées diverses, Edition Garnier, Paris 1879, vol. 7, 181. Der Text findet sich auch Online unter: https://fr.wikisource.org/wiki/Pensées_diverses_(Montesquieu). Denn warum sollte eine dritte Entscheidung in derselben Sache qualitativ besser sein als die ersten beiden?
Jeder, der eine Rechtsentscheidung trifft, ist souverän.
Was immer auch die Entstehungsgründe des Instanzenzuges sein mögen, unter seinen verschiedenen Funktionen nicht die geringste ist es, zu retardieren und dadurch zu befrieden. Wesentlich an einem Verfahren ist nicht primär, dass eine Frage entschieden wird, sondern dass die verschiedenen, sich widerstreitenden Positionen dargelegt werden können, dass sie Gehör finden. Die Zeit, die dafür aufgewendet werden muss, ist kein Preis, den es zu minimieren gilt, sondern zentraler Teil der Leistung des Verfahrens bzw. des Rechts. Als Defizit kann es nur demjenigen erscheinen, der das Recht als eine Art Maschine missversteht, die vorbestehende allgemeine Kriterien auf konkrete Fälle anwendet. Nur wer die Subsumtion als mechanischen Akt konzipiert, kann von Algorithmen träumen, die einst Rechtsentscheidungen fällen werden. Das aber eliminiert das Recht selbst. Was eine Maschine «entscheiden» kann, gehört nicht zum Recht. Es kann kein Recht darstellen, weil solche «Entscheidungen» das Recht schlicht nicht benötigen. Ein Sachverhalt, für den nicht mindestens zwei vernünftigerweise vertretbare Positionen bestehen, muss nicht «entschieden», er muss nur geklärt werden. Das Problem kann höchstens darin bestehen, die massgebliche Regel zu finden. Ist sie aber gefunden, ist damit auch klar, was gilt. Zuvor muss natürlich zweifelsfrei und klar eruierbar sein, welche Norm zur Anwendung kommt. Kommen vernünftigerweise mindestens zwei Normen in Frage, kann eine Maschine bzw. ein Algorithmus das nicht lösen bzw. «entscheiden». Weil Maschinen nicht entscheiden, steht ein mechanisch gewonnenes Resultat immer schon vorgängig fest. Das gilt auch dort, wo es durch einen höchst komplexen Algorithmus ermittelt wird. Ein solches Resultat kann deshalb nicht richtig oder falsch sein, das kann höchstens für die Maschine oder den Algorithmus gelten. Gleich einem Lichtschalter kann der Entscheidmechanismus nicht irren, er kann nur kaputt sein.
Eine Rechtsentscheidung lässt sich deshalb durch Beschleunigung nicht verbessern. Vielmehr bewirkt das blosse Vergehen der Zeit, dass sich die Dinge setzen, dass sie eine andere Färbung, ein anderes Gewicht bekommen, dass wir sie verarbeiten können. Anderes könnte höchstens dort gelten, wo sich nicht zwei vernünftigerweise vertretbare Positionen gegenüberstehen, also dort, wo eine Rechtsentscheidung gerade nicht notwendig ist.
Dabei ist uns Retardieren als Qualitätsgarant so geläufig, dass wir bei schwierigen Entscheidungen gerne «darüber schlafen». Auch haben 38Demokratien typischerweise zwei Parlamentskammern, nicht primär der Repräsentativität, sondern der Verlangsamung des Gesetzgebungsprozesses wegen. Mit dem Vergehen der Zeit vergehen auch die Dinge und ihre Bedeutung. Beschleunigung der Verfahren bedeutet deshalb auch, dass eine Entscheidung – weil die Dinge noch heiss sind – eher angefochten und an die nächste Instanz gezogen wird. Das ist in zweierlei Hinsicht problematisch:
Es führt unumgänglich zu einer Überlastung der Justiz, und zwar auf allen Stufen. Beschränkt aber nicht der Zeitablauf die Zahl der Berufungsverfahren, so werden andere Kriterien gefunden, um das zu erreichen, etwa die Anhebung des massgeblichen Streitwertes oder die Bedeutung der Rechtsfrage. Entsprechend gross ist der Bedarf an anderen Beschränkungs- bzw. Entlastungsfaktoren: Für die Strafverfolgung etwa das stetig zunehmende Ermessen (Opportunität), für den Strafvollzug bestimmte Vollzugsformen (etwa elektronische Fussfesseln), und für Zivil- und Verwaltungsrecht Erhöhung der Streitwerte und Beschränkung der Aktivlegitimation bzw. Beschwer.
Zum Anderen aber, und das tangiert die Funktionalität des Rechts in noch gravierenderer Weise, führt die Beschleunigung der Verfahren – entgegen den Erwartungen und Hoffnungen – letztlich zu einem Bedeutungsverlust des Rechts. Entscheidet auch die Berufungsinstanz innert kurzer Frist, sind die Rekursmöglichkeiten alsbald erschöpft. Mit der letztinstanzlichen Entscheidung aber kommt das Recht an sein Ende und die Sache kehrt zurück an ihren Ursprung. Das Spiel beginnt von neuem.
Natürlich kann der retardierende Charakter des Rechts den Interessen der unmittelbar Betroffenen zuwiderlaufen und die Rechtssuchenden u.U. hart treffen. Das liegt am Charakter des Rechtes selbst: Wo Recht als Instrument dienen soll, einen (unbefriedigenden) tatsächlichen Zustand abzuändern oder aufzuheben, muss es aufgrund seiner Natur fast zwangsläufig scheitern. Dass ein faktischer Konflikt in eine Rechtsfrage transformiert wird, die alsdann im Schwebezustand gehalten wird, vermag das Faktische gerade nicht zu ändern. Und wo der faktische Zustand unbefriedigend ist, bleibt er natürlich bestehen, solange die Sache strittig ist, weshalb Beschwerden vielfach eher Frustration des Beschwerdeführers bewirken, als seine Befriedigung. Das aber liegt am Charakter des Rechts, das der Macht eher unter- als entgegensteht. Hübsch ausgedrückt wird diese Sachlage etwa in der bekannten Sentenz «in pari turpitudine melior est causa possidentis», also der Aussage, dass bei gleichem Sittenverstoss, der Besitzer einer Sache die bessere Position hat. Und auch Georg Jellineks «normative Kraft des Faktischen» gehört in diesen Zusammenhang. Diese Struktur lässt sich selbstredend durch Beschleunigung nicht verändern. Wer die Welt verändern will, ist mit Panzern erfolgreicher als mit Gerichten.
Die Beschleunigung des Rechts mündet deshalb notwendig nicht nur im Wuchern der Rechtsmasse (vgl. M. A. Niggli, Gerechtigkeit & Beschleunigung, ContraLegem 2022/1), sondern auch in der Vervielfachung der Rechtsstreitigkeiten bzw. Verfahren. Geschwindigkeitssteigerung bewirkt also das Gegenteil dessen, was sie angestrebt: Die sich entgegenstehenden Parteien und Meinungen verlieren nur langsam an Vehemenz. Auch wer Recht nicht über die anfechtbare Entscheidung definiert, wird zugeben, dass Vertrauensbildung und Friedenssicherung nicht grösser werden, wenn sie in kürzerer Zeit erbracht werden. Vielmehr besteht die sehr dringende Vermutung, dass langfristige Wirkungen (wie eben Vertrauensbildung und Friedenssicherung) eine gewisse minimale Dauer beanspruchen, dass also die Verkürzung der Zeit mit einer Verkürzung dieser Wirkungen einhergeht. Durch Beschleunigung lässt sich eine Steigerung der Effektivität des Rechtes daher kaum je erreichen. Auch wer fälschlicherweise die Beschleunigung des Rechts 39(sowohl der Gesetzgebung als auch der Rechtsanwendung) als Steigerung seiner Effizienz verstehen will, wird zuzugeben müssen, dass dies mit der Minderung seiner Effektivität bezahlt wird.
Diese Entwicklung (Abnehmen der Effektivität als Folge angestrebter Effizienzsteigerung, Wuchern der Rechtsmasse bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust des Rechts) wird paradoxerweise durch die globale Kommunikation verstärkt und beschleunigt: Das Recht strebt scheinbar an, Unentscheidbares zu entscheiden, während es in Wirklichkeit die Entscheidung in der Schwebe hält. Umgekehrt – quasi gespiegelt – strebt ein Grossteil der Kommunikation über die Entscheidungen des Rechts scheinbar Klarheit und Endgültigkeit an, während doch in Wirklichkeit über Entschiedenes, über Evidentes und Klares nicht viel zu berichten ist. Nur was noch nicht entschieden ist, was unklar, fehlerhaft oder diskutabel ist, bietet überhaupt Stoff für Berichte.
Hat das Recht eine Frage endgültig entschieden, ist sie nicht mehr Gegenstand des Rechts, sondern wird ausgeschieden und kommt als Re-Entry zurück in die ursprüngliche Sphäre des Unentschiedenen. Nun lässt sich darüber wieder berichten, erneut mit der Klage, eine Entscheidung dauere zu lange. Fehlt die Bereitschaft, Unschärfe bzw. Unentschiedenes auszuhalten, so muss die Leistung des Rechts, Unentscheidbares in der Schwebe zu halten, nicht als Leistung, sondern als Defizit qualifiziert. Das lässt sich auch nicht durch Beschleunigung korrigieren, vielmehr verstärkt sich damit das als «Problem» wahrgenommene Phänomen.
Fazit
Recht besteht aus Entscheidungen, die anfechtbar sind; Entscheidungen, gegen die ein Rechtsbehelf existiert (Niggli/Husmann, Jungleland).
Nur Unentscheidbares benötigt eine Rechtsentscheidung.
Recht verspricht Unmögliches, indem es vorgibt, Unentschiedenes (d.h. recte Unentscheidbares) zu entscheiden. Es gibt vor, Klarheit durch Entscheidung zu schaffen, hält aber in Wirklichkeit die Dinge in der Schwebe.
Fehlt die Bereitschaft, Unschärfe auszuhalten, muss die Leistung des Rechts, Unentscheidbares in der Schwebe zu halten, zunehmend nicht als Leistung, sondern als Defizit erscheinen.
Dieses Defizit lässt sich durch Beschleunigung nicht korrigieren, sondern wird im Gegenteil dadurch verstärkt.
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