Brüche
4Am Montagabend, den 28. Februar 2022, erstrahlt das Zürcher Grossmünster in blau-gelb, als Zeichen der Solidarität mit der von russischen Truppen angegriffenen Ukraine. Medienberichten zufolge bewegen sich 20’000 Menschen friedlich mit Kerzen und Plakaten durch die Stadt; sie protestieren gegen den Einmarsch der russischen Truppen, man hört in den Gassen des Niederdorfs immer wieder Parolen.
Einige Stunden zuvor hat der Bundesrat bekanntgegeben, dass er nun die Sanktionspakete der EU vom 23. und 25. Februar übernehmen würde. Die Vermögen der von der EU gelisteten Personen und Unternehmen sind auch in der Schweiz ab sofort gesperrt und es erfolgt der Vollzug der Finanzsanktionen gegen den russischen Präsidenten Vladimir Putin, Premierminister Mikhail Mishustin und Aussenminister Sergey Lavrov. Als Grundlage dieser Entscheidung erklärt der Bundesrat das Bestreben, die Wirkung der Sanktionen der EU gegen Russland zu verstärken, und entschliesst sich damit auch, das Abkommen von 2009 über die Visaerleichterung für Russinnen und Russen teilweise zu suspendieren und den Schweizer Luftraum für alle Flugbewegungen von Luftfahrzeugen mit russischer Kennzeichnung zu sperren. In der gleichen Ankündigung bekräftigt der Bundesrat zudem die Solidarität der Schweiz mit der Ukraine. Die Medien goutieren in der grossen Mehrheit diese Ankündigung am späten Nachmittag und unterstützen die eingeleiteten Massnahmen, nachdem Tage zuvor der Bundesrat wegen seiner zurückhaltenden Haltung im Hinblick auf Sanktionen gegen Russland eben von dieser grossen Mehrheit der Medien stark kritisiert worden war.
Ungeachtet der medialen Resonanz und mit einem weniger oberflächlichen Blick lässt sich allerdings die Ankündigung des Bundesrates vom 28. Februar 2022 als der grösste aussenpolitische Bruch der Schweizer Politik verstehen sowie als Paradigma für (Aussen-)Politik im Zeitalter der Mediengesellschaft.
Die Übernahme der EU Sanktionen stützt der Bundesrat materiell auf Art. 185 BV (Äussere und innere Sicherheit):
1 Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.
2 Er trifft Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit.
3 Er kann, unmittelbar gestützt auf diesen Artikel, Verordnungen und Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Solche Verordnungen sind zu befristen.
4 In dringlichen Fällen kann er Truppen aufbieten. Bietet er mehr als 4000 Angehörige der Armee für den Aktivdienst auf oder dauert dieser Einsatz voraussichtlich länger als drei Wochen, so ist unverzüglich die Bundesversammlung einzuberufen.
Der Bundesrat darf also Massnahmen treffen, sofern sie die äussere Sicherheit, die Unabhängigkeit und die Neutralität der Schweiz betreffen.
5Durch die Übernahme der EU-Sanktionen wird nicht nur fremdes Recht übernommen, sondern eine Art von Recht, das eine klare aussenpolitische Positionierung der Schweiz bewirkt. Diese klare aussenpolitische Positionierung steht konträr zur Unabhängigkeit und Neutralität und liesse sich – am Wortlaut des Gesetzes orientiert – nur durch die äussere Sicherheit rechtfertigen. Wird jedoch äussere Sicherheit durch eine klare aussenpolitische Positionierung bezweckt, so führt das zu einem – nicht nur semantischen – Widerspruch: klare politische Positionierung ist das Gegenteil von Unabhängigkeit und Neutralität, so dass sich äussere Sicherheit einerseits und Unabhängigkeit und Neutralität andererseits gegenseitig zwingend ausschliessen. Dieser Befund, so banal er daherkommt, ist ein epochaler Bruch der Schweizer Aussenpolitik, gar der Schweizer Staatsräson, welche die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz nicht als Gegensatz, Einschränkung oder gar Gefährdung der äusseren Sicherheit, sondern als deren Grundlage verstanden haben.
Direkt mit der Verkündung der Sanktion begann eine öffentliche Debatte über diese Entscheidung des Bundesrates und ob durch sie die Neutralität der Schweiz begraben wurde. So wurde zu Recht darauf hingewiesen (cf. Marco Jorio in der NZZ vom 14. März 2022), dass es eine Unterscheidung gibt zwischen Neutralitätsrecht, das keine Teilnahme an Kriegen, kein Durchqueren des Territoriums durch kriegführende Truppen, keine staatlichen Waffenlieferungen an Kriegsparteien, und keine Bildung von kombattanten Truppen für eine Kriegspartei vorsieht, sowie die Neutralitätspolitik, die alle Massnahmen umfasst, die ein Staat über seine neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen hinaus trifft, um die Glaubwürdigkeit seiner Neutralität im Kriegsfall zu sichern. Durch die Übernahme der EU-Sanktionen ist nach herrschender Meinung das Neutralitätsrecht nicht verletzt worden. Ob hingegen weiterhin überhaupt von einer Neutralitätspolitik der Schweiz gesprochen werden kann, ist äusserst fraglich.
Die Schweizer Neutralität ist in der Vergangenheit – nicht immer zu Unrecht – kritisiert worden, vor allem beim Umgang mit durch das nationalsozialistische Regime in Deutschland Verfolgten (e.g. Fall Spring). Zu Recht haben Kritiker darauf hingewiesen, dass die Weigerung, verfolgten Individuen Schutz zu gewähren, nur schwer erträglich mit aussenpolitischen Idealen zu rechtfertigen ist. Nicht zuletzt deshalb hat die Schweiz seit dem Ende des 2. Weltkrieges die Neutralität nicht als ein «Wegschauen» oder «eine Delegation von Verantwortung» definiert, sondern hat sich leiten lassen von der Erkenntnis, dass internationale Konflikte komplex sind und dass für deren Lösung die beteiligten Konfliktparteien auf einen unabhängigen Mediator zurückgreifen können sollen.
Anzuerkennen, dass internationale Konflikte komplex sind, ist die Grundlage, um diese Konflikte verstehen und beenden zu können. Die Wahrheit ist in allen Kriegen das erste Opfer (so schon Hiram Johnson) und eine klare Gut-Böse-Einteilung der Akteure mag für die Erreichung politischer Ziele notwendig sein, trägt aber nicht dazu bei, den Konflikt zu verstehen. Vielmehr stellt die Klassifikation der Akteure als gut und böse zu Beginn eines Konfliktes ein moralisches und politisches Urteil dar, bevor die Fakten vorliegen und – hier wird es schwierig für die Konfliktbeilegung – kommt einer Vorverurteilung der Akteure gleich. Man verstehe mich nicht falsch: Die Verurteilung von Handlungen (e.g. Bombardement der Zivilbevölkerung, illegale Invasion etc.) ist nicht gleichzusetzen mit der Verurteilung der Akteure und deren Überlegungen und Motive, die solchen Handlungen zugrunde liegen, man denke da an die unterschiedliche moralische Bewertung der Bombardements Londons und Leipzigs während des 2. Weltkrieges. Die Verurteilung von Handlungen ist ein Zeichen, dass klare Wertvorstellungen existieren, was (nicht nur rechtlich) zu tun (oder unterlassen) akzeptabel ist und zwar unabhängig vom Akteur. Die Verurteilung der 6Akteure hingegen ist eine klare Positionierung, eine Parteiergreifung, welche die Konfliktlösung erschwert. Nur wenn die Akteure nicht a priori «neutral» behandelt werden, kann man sie gemeinsam an einen Tisch bringen. Niemand wird sich an einen Verhandlungstisch begeben, wenn das Urteil über ihn schon gefällt ist.
Durch die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland hat sich die Schweiz aussenpolitisch klar positioniert und ihre Neutralitätspolitik weitestgehend aufgegeben. Das kann man wollen, aber man muss sich dann auch von der Idee verabschieden, dass die Schweiz nun zur Beendigung dieses Konfliktes einen essentiellen Beitrag wird leisten können. Und während es zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz klar ist, wie die äussere Sicherheit der Schweiz durch die Übernahme der Sanktionen genau geschützt wird, lässt sich sagen, dass dadurch das Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine nicht vermindert wird, sondern durch die Erschwerung einer diplomatischen Mediation zwischen den Konfliktparteien unter der Federführung der Schweiz wohl noch verlängert wird. Dieser Bruch bedingt auch, dass die Schweiz anfangen muss, ihre Rolle in der Weltpolitik neu zu definieren. Ihre Rolle als Mediatorin in internationalen Konflikten hat nämlich starke Kratzer bekommen.
Der geschilderte Bruch der Schweiz mit den Leitgedanken ihrer bisherigen Aussenpolitik dient aber auch als Paradigma der Mediengesellschaft, ohne die er nicht zu verstehen ist.
Die – auch moralische – Parteinahme auf Kosten der Unabhängigkeit und Neutralität erfolgte auf Druck der Medien. Von Druck anderer Staaten ist nichts bekannt und vom Bundesrat auch nicht so kommuniziert worden. Die klare Parteinahme des Bundesrates verwundert umso mehr, als die Erfahrung – auch in casu – zeigt, dass die Schweizer Banken völlig unabhängig von bundesrätlichen Entscheiden Sanktionen – z.B. der USA und der EU – in der Regel für sich übernehmen, um weiter Transaktionen in USD und EURO abwickeln zu können und nicht ins Visier ausländischer Behörden zu geraten. Die Ankündigungen des Bundesrates, die EU-Sanktionen zu übernehmen, machen die Arbeit der Schweizer Banken leichter, sie beeinflussen sie aber nicht. Der Bundesrat hat damit den Schwerpunkt nicht auf die wirkliche Umsetzung der Sanktionen gelegt – sie erfolgten im Finanzsektor nämlich durch die Banken autonom und aus deren Interessen heraus – sondern auf die Aussendarstellung der Schweiz. Politik in der Mediengesellschaft ist immer, oder vor allem, auch Wahrnehmung. In diesem Lichte ist auch der mehr als fragwürdige Auftritt des Bundesratspräsidenten Cassis zu werten, der bei einer pro-ukrainischen Demonstration mit einer Live-Schaltung mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj diesem nicht nur bescheinigte, die Werte der Schweiz zu verteidigen, sondern ihn danach auf Twitter auch als Freund («my friend») bezeichnete. Selenskyj wiederum war mehr Realpolitiker und nutzte diese mediale Aufmerksamkeit, um die Sperrung russischer Gelder in der Schweiz zu verlangen und mit Nestlé einen der grössten Schweizer Arbeitgeber und Steuerzahler zu kritisieren, da Nestlé noch Produkte nach Russland liefere. In der Essenz wurde ein ausländisches Staatsoberhaupt vom Bundespräsidenten hofiert, das ihm vorzuschreiben versuchte, wie es regieren solle. Der Bundespräsident bedankte sich dafür sogar. Was rechtlich und politisch ein sehr fragwürdiger Auftritt von Cassis gewesen ist, wurde von den meisten Medien grösstenteils gefeiert, die eine klare Parteinahme der Schweiz verlangten.
Dieser «Schrei» nach Parteinahme durch die Medien war aber auch Drang nach vermeintlicher Klarheit: hier die gute Seite (Ukraine, der Westen), da die böse Seite (Russland). Dieses Narrativ erlaubt nicht nur schnelle und einfache Antworten auf schwierige Fragen, sondern schafft den Eindruck, die Komplexität des Konflikts, der Welt aufzulösen. Der Yale Professor Jeffrey Sonnenfeld erlangte in kurzer 7Zeit Berühmtheit, indem er eine fortwährend aktualisierte Liste von westlichen Unternehmen führt, die sich nach dem Kriegsbeginn aus Russland zurückgezogen haben und gleichzeitig diejenigen anprangert, die noch auf dem russischen Mark tätig sind. Angesprochen auf die negativen Folgen für einige noch immer in Russland tätige westliche Unternehmen antwortete Sonnenfeld, dass es in der «Russlandfrage» keinen Graubereich, sondern nur Schwarz oder Weiss gebe. Listen, die Personen (auch juristische) auf Grundlage eines moralischen / ideellen Urteils klassifizierten, gab es schon seit Sullas Proskriptionen und kaum ein Terrorregime ist ohne sie ausgekommen. Die naming-and-shaming Liste aus Yale, so sehr sie «Gutes» erreichen will, ist in ihrer Vereinfachung und Klarheit sehr ansprechend, verfehlt aber, die Komplexität zu spiegeln. Eine solche Vereinfachung, ja Infantilisierung des Konflikts geht an der Realität vorbei, erlaubt aber Polarisierung und dient damit als Grundlage für reisserische Überschriften. Es ist bezeichnend für die Mediengesellschaft, dass ein grosser Teil ihrer Mitglieder Komplexität und Widersprüchlichkeit nicht mehr aushalten will. Begehrt sind klare Positionierungen, klare «Ansagen», klare Richtlinien, eine klare Unterscheidung von Weiss und Schwarz. Die detaillierte Auseinandersetzung mit der Gegenseite und ihren Argumenten erscheint mühsam und taugt per se nicht für das Funktionieren der Mediengesellschaft, weil es zeitraubend ist, während gleichzeitig immer mehr Schlagzeilen produziert werden müssen.
So spielte etwa die Frage, weshalb Russland in die Ukraine einmarschiert ist, schon wenige Tage nach dem Einmarsch fast keine grosse Rolle mehr. Dabei wäre diese Frage zur Konfliktbeilegung essentiell. Russland – respektive Putin – ist böse. Dazu passt auch, dass häufig nicht von «Russlands» Krieg gesprochen wird, sondern von demjenigen Putins. Die zahlreichen Artikel, die sich mit seiner mentalen Gesundheit beschäftigen, zeugen von einer Annahme, dass der Konflikt durch die Geistesschwäche des russischen Präsidenten zu erklären wäre. Dies dürfte weniger mit einer wahren Sorge um seine Gesundheit zusammenhängen, als vielmehr mit dem Bestreben, dem «Bösen» ein Gesicht zu geben. Die Personifizierung von staatlichen Handlungen erfolgt vor allem, um weiter Komplexität zu reduzieren.
Der Politik kommt diese klare Parteinahme nicht ungelegen, denn gleichzeitig mit ihr und der weiteren Eskalation des Konfliktes verschwinden Fragen nach der Verantwortung des Westens in diesem Krieg, nach der Rechtsstaatlichkeit und der Korruption in der Ukraine, Fragen nach dem Umgang der Ukraine mit ihrer pro-russischen Bevölkerung und nach diplomatischen Verfehlungen westlicher Politiker, Fragen nach energiepolitischen Fehlentscheiden und weshalb vor einigen Monaten afrikanische Flüchtlinge an den genau gleichen europäischen Grenzposten abgewiesen worden sind, während nun diese Grenzposten für Ukrainer offen sind. Diese selbstkritischen Fragen brauchen nicht mehr beantwortet zu werden, denn Gut und Böse sind definiert und die Idee, dass die «Guten» eine Teilverantwortung für Handlungen der «Bösen» tragen könnten, wird auf schon fast religiöse Art gar nicht mehr gestellt. Und so sehr die immer schrecklicheren Berichte über den Krieg in der Ukraine nach einer Parteinahme verlangen, so sehr muss man sich darauf besinnen, dass die Parteinahme eine persönliche, individuelle Entscheidung ist und bleiben muss und auf staatlicher Ebene erst zu erfolgen hat, wenn die Interessen der Schweiz dies wirklich verlangen. Eine Parteinahme, um dem medialen Druck nachzugeben, mag für einzelne Politiker opportun sein, Realpolitik mit einer neutralen Schweiz als Akteur aber spielt sich ausserhalb dieser Sphären ab. Ein genauer Blick auf gewisse Vorgänge wirft freilich andere, unangenehme Fragen auf: Was genau unterscheidet Russlands Angriffskrieg und den erstrebten Regimewechsel von den Handlungen des Westens im Irak oder in Libyen? Wie kann das eine richtig und das andere falsch sein, wenn es sich 8in beiden Fällen um eine ausländische Intervention handelt. Bezeichnenderweise führte der Westen im Irak und Libyen, die gleichen Argumente an wie Russland nun in der Ukraine: die Verhinderung eines Genozids, der Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen, die Stabilität der Region. Die Ergebnisse sind bekannt und dürften auch im Falle der Ukraine nicht anders ausfallen. Und um zu den Sanktionen zurückzukehren: Was genau unterscheidet den jetzigen Konflikt von anderen, bei denen die Schweiz nicht bereit war, Sanktionen auszusprechen? Gibt es tatsächlich objektive Gründe oder ist die medial gestaltbare Welle inzwischen so gross, dass die Politik sich vor ihr ducken muss? Und ja, es herrscht Krieg in Europa, aber das tat es schon in den 90er Jahren im Balkan und in den 70er Jahren auf Zypern. Doch die vermeintliche «Einzigartigkeit» dieses Konfliktes erlaubt heftigere Schlagzeilen als die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Europa viele ungelöste Konfliktherde (z.B. Irland, Baskenland, etc.) hat, seine Nachbarn teils repressive Regimes (z.B. Weissrussland, Türkei) sind und, vor allem Russland, regelmässig Kriege angezettelt haben, für die Europa und der Westen nur vage Konsequenzen vorsahen. Auch die Fragen, weshalb der Import von Gas und Öl aus Staaten aus dem Nahen Osten problemlos sein soll und weshalb Geschäfte mit China, das die Uiguren verfolgt, weiterhin in Ordnung sind, müssen irgendwann gestellt werden. Diese Fragen können nicht mit einer moralistischen Parteinahme beantwortet werden, sondern nur mit Verweis auf Realpolitik. Das kann man stossend finden, aber es deshalb zu verneinen, ist eine Verklärung der Realität, in der sich die internationale Staatenordnung bewegt.
Und doch, diese Verklärung der Realität und das Pochen auf eine Parteinahme auf Grundlage der Moral schafft einen gefährlichen Windschatten der Empörung über das vermeintliche einzigartige «Ereignis» der russischen Invasion. In diesem Windschatten werden Massnahmen erlassen, die noch vor einigen Wochen undenkbar gewesen wären: Die Aufstockung der Militäretats in vielen Ländern um mehrere hundert Milliarden Euro oder Dollar. Bei der Rettung verschuldeter Länder in der Eurozone wurde gefühlt auf jeden Euro geachtet, nun rüstet Europa auf, als ob die Ausgaben auch für zukünftige Generationen kein Problem wären. Es ist noch zu früh zu sagen, wie der Krieg ausgeht, aber die Verlierer – die leidende ukrainische Bevölkerung und die zukünftigen Steuerzahler – und die Gewinner – die Rüstungsindustrie – stehen jetzt schon fest.
Durch eine klare Parteinahme entsteht der Eindruck einer klaren Sachlage, doch der Blick für Nuancen geht dabei verloren. Die Covid-19 Pandemie hat gezeigt, wie die Bevölkerung sich in nur wenigen Monaten in Impfbefürworter und Impfgegner separiert hat, die kaum mehr miteinander einen gemeinsamen Kommunikationsnenner finden konnten. Eine solche Politik, eine solche Medienberichterstattung, die nur wenig Raum für Nuancen bietet, ebnet aber den Weg für eine Radikalisierung und die medial geforderte Positionierung der Politik in diesem Krieg öffnet die Büchse der Pandora für ein anderes Übel, das bereits aus ihr zu entweichen scheint: Gesinnung und eine Politik, die sich auf Gesinnung und eben nicht auf Recht stützt. Supermärkte nehmen russische Produkte vom Markt, russische Sportler und Sportvereine werden von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, Darbietungen russischer Künstler werden abgesagt, russische Vermögen werden – weil sie einer Person mit russischem Pass gehören – gesperrt. Diese Massnahmen sind nur möglich, wenn man von einer Kollektivschuld ausgeht. Eine Kollektivschuld bedingt aber, dass man eine klare Gesinnung hat, dass man der einen Konfliktpartei nicht nur die eindeutige Schuld gibt, sondern auch den Individuen, die durch Geburt, Zufall oder freie Wahl dieser Partei angehören. Nicht die Handlungen eines Menschen dient als Gradmesser seiner Be- und Verurteilung, sondern seine Eigenschaften, in casu die Nationalität. 9Das trägt notwendigerweise zur Eskalation des Konfliktes bei und von dieser Gesinnung hin zum Hass ist es nicht weit, spätestens dann, wenn die hiesige angestachelte Bevölkerung in Form von höheren Steuern und Energiepreisen die Kosten der Eskalation wird mittragen müssen. Zudem erschwert eine solche Gesinnung die Rückkehr zu einer friedlichen Normalität, denn im Gegensatz zu Zeitungsartikeln können Emotionen nicht einfach überschrieben werden. Eine Kollektivschuld anzunehmen und basierend darauf Entscheidungen zu fällen, wird einem Rechtsstaat nicht gerecht. Das Ultimatum der Stadt München durch ihren Oberbürgermeister an den russischen Dirigenten der Münchener Philharmoniker Gergiev, sich nicht nur vom Konflikt, sondern auch von Putin zu distanzieren, ist verstörend, denn es setzt eine bestimme individuelle vom Staat genehmigte Gesinnung voraus, um einen Beruf, um Kunst ausüben zu können. Politisch dürfte dieses Ultimatum und die darauffolgende Entlassung Gergievs durchaus Unterstützung gefunden haben, ist aber kaum mit einem auf Recht und eben nicht der Gesinnung basierten Rechtsstaat vereinbar. Das Zürcher Opernhaus hat anfänglich rechtsstaatlich vorbildhaft darauf hingewiesen, dass es von seinen Künstlern mangels rechtlicher Grundlage keine Informationen über politische Positionen einholen kann. Wenige Tage danach hat es aber – zumindest einvernehmlich mit der Künstlerin, aber unter schwerem medialem Druck – Auftritte von Anna Netrebko abgesagt. Einen derartigen Rechtfertigungsdruck für Individuen kennt man eigentlich nur von totalitären Staaten. Vergleiche mit der McCarthy-Ära sind verfrüht, aber die Parallelen erscheinen immer deutlicher. Heute sind es die Russen, morgen kann es jeden treffen.
Die Empörungskultur als inhärenter Teil der Mediengesellschaft fördert freilich eine Politik, die auf Gesinnung basiert. Man kann, man muss vielleicht sogar, Donald Trumps Populismus kritisieren, aber man muss sich gleichzeitig bewusst sein, dass er durch seine Simplifizierung der Politik – stützend auf ihm genehme Medien – die Blaupause für die jetzige Gesinnungspolitik des Westens geliefert hat. Es trifft natürlich nicht zu, dass der Westen sich und seine Interessen nicht verteidigen sollte. Man muss aber daran erinnern, dass dies in den letzten drei Jahrzehnten arg vernachlässigt worden ist. Die Verteidigung westlicher Interessen darf nicht durch die Pflicht von Individuen erfolgen, eine vermeintlich moralisch höherwertige – im schlimmsten Fall sogar staatlich propagierte – Gesinnung zu adaptieren. Dass Individuen – auch staatliche – Moralvorstellungen übernehmen müssen, um Repressalien zu umgehen, ist ein Tabubruch. Die grössten Verdienste für die Westlichen Werte haben sich stets die Mahner und Kritiker erworben. Das verlangen, deutlich Position zu beziehen, ist politisch zwar nachvollziehbar, rechtstaatlich aber falsch. Politik kommt ohne moralische Gesinnung, ohne klare Ideen nicht aus und die Medien brauchen für ihre Schlagzeilen einfache, klare Sachverhalte. Das Problem und die Gefahr dabei sind jedoch, dass rechtsstaatliche Prinzipien vernachlässigt oder gar über Bord geworfen werden. Gesinnung darf und kann nicht der Gradmesser sein, an dem Individuen rechtlich bewertet werden. Auch vom Mainstream abweichende Meinungen verdienen Schutz. Gedanken, so verstörend sie im Einzelfall sein mögen, sind und dürfen weder strafbar sein noch andere repressive Konsequenzen haben. Innerhalb des rechtlich Zulässigen muss das Individuum – um überhaupt ein solches sein zu können – in der Lage sein, sich frei und ohne Angst vor staatlichen Konsequenzen moralisch zu positionieren und seine Gesinnung – wie immer sie geartet sei – zu äussern. Ist dies nicht möglich, ist die Schwelle zum Totalitären überschritten. Erschreckenderweise sind wir inzwischen so weit, dass ernsthaft vorgeschlagen wird, eine der massgeblichsten Säule der Rechtstaatlichkeit zu stürzen: das Anwaltsgeheimnis soll nicht für Personen gelten, die auf (Sanktions-)Listen stehen. Dass man (wohlgemerkt aus politischen Gründen) bestimmte Personen auf 10Listen setzt und ihnen dann den Rechtsschutz verweigert, muss für einen Rechtsstaat ein absolutes Tabu sein. Nicht anders verhält es sich mit dem kürzlich ausgearbeiteten Vorschlag einiger Politiker, dass blockierte Vermögen von «Putin-nahen» Oligarchen nicht nur eingefroren, sondern auch eingezogen und einem bestimmten Zweck zugeführt werden sollen, wie zum Beispiel dem Wiederaufbau der Ukraine. So sehr man in diesem Vorschlag die gute Intention sehen mag, so gefährlich ist er, bricht er doch mit der Eigentumsgarantie und erlaubt die staatliche Enteignung von Personen aufgrund politischer Überlegungen. Bricht man mit diesen rechtstaatlichen Prinzipien, bricht man auch mit dem Rechtsstaat als solchen, das muss nicht nur der Politik und der Verwaltung, sondern auch den Medien und jedem Einzelnen klar bewusst werden. Einer fraglos schwierigen politischen Situation mit solchen rechtsstaatlich mehr als fragwürdigen Mittel zu begegnen, wird die (aussen-)politischen Probleme nicht lösen, aber ultimativ zur Erosion des Rechtstaates führen.
Freilich, und das ist die Erkenntnis, die immer mehr durchsickert, entfernen sich die Medien von dem augstein’schen «Schreiben, was
ist» hin zu einem «Schreiben, was sein soll». Nachdem Anfang April die ersten Meldungen über ein mögliches Massaker russischer Soldaten an ukrainischen
Zivilisten in der Ortschaft Butscha aufkamen, reagierte das EDA – wohl auch noch Cassis’ Malheur im Hinterkopf – indem es eine unabhängige Untersuchung verlangte und die Verstösse gegen das
Völkerrecht kritisierte. Die Schweiz at its best: Ein Beharren auf Regeln, selbst wenn andere sie brechen. Die Reaktion des Blick war, Cassis, den Vorsteher des
EDA, als Weichspüler zu bezeichnen, weil er nicht klarer Partei ergriffen habe und er gegen Russland nicht ausreichend Härte zeige. Cassis reagierte darauf: Er lobte, dass die Schweiz bei der
Umsetzung der Sanktionen nicht nur auf Kurs sei, sondern zu den Besten weltweit gehöre. Abgesehen von der Frage, wie und mit welchem Sinn und Zweck denn bei den Russlandsanktionen die «Besten
weltweit» evaluiert werden sollten, offenbart es eine Politik, die sich vom medialen «was sein soll» treiben lässt. Der deutsche Journalist Nikolaus Blome warf dem deutschen Bundeskanzler Olaf
Scholz in einem Artikel direkt vor, sich von den Medien nicht treiben lassen zu wollen, nachdem dieserer im Ukrainekrieg aus Sicht von Blome zu zurückhaltend agiert habtte. Der Bundeskanzler, so
Blome, lasse sich «auch nicht von Vernunft oder zum Richtigen» treiben und das sei kindisch und koste Zeit. Nicht nur, dass hier der Journalist für sich schon propagierte, was richtig und
vernünftig sei – das könnte man immerhin als Meinung qualifizieren – sondern die Tatsache, dass die vierte Gewalt nunmehr nicht nur beschreiben, kritisieren und
kontrollieren will, sondern für sich die Vernunft und – fast schon mit religiösem Tenor – das Richtige in Anspruch nimmt, ist problematisch und – das muss man klar sagen – gefährlich. Die
Gewaltenteilung gilt auch für die Medien, auch wenn dies von ihren Vertretern immer mehr unter dem aktivistischen Dunst des «Schreibens, was sein soll» vergessen
wird.
In die gleiche Kerbe schlagen nun auch die Politiker und «Experten», welche der Schweiz attestieren, zu wenig gegen Russland und gegen die Vermögen russischer Staatsbürger zu tun, und die die USA
und die EU offen dazu auffordern, Druck auf die Schweiz auszuüben. Sie propagieren dabei die faktische Ausserkraftsetzung der Bank- und Anwaltsgeheimnisse und ein direktes Vorgehen der
US-Behörden gegen Schweizer Anwältinnen und Anwälte, falls Hinweise vorlägen, dass sie im Auftrag ihrer russischen Klienten mit US-Sanktionen brechen. Das dabei immer wieder vorgetragene Argument
lautet, dass die Schweiz sich durch die (angeblich vom Ausland so wahrgenommene, jedenfalls aber medial so dargelegte) «Zurückhaltung» ihren «guten Ruf» zerstöre. Die ausländische öffentliche
Meinung als Gradmesser politischen Handelns zu definieren, ist schon per se befremdlich und zeugt von einem Minderwertigkeitskomplex, auf 11diesem Altar aber den Rechtstaat opfern zu wollen ist – das sei klar gesagt – ein Bruch, der das Ende der liberalen, freiheitlichen Ordnung der Schweiz zur Folge haben wird. Der
Ende Mai in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienene gemeinsame Beitrag von Michael Ambühl, emeritierter Professor an der ETH Zürich und vormaliger Staatssekretär des Schweizer
Aussenministeriums, Nora Meier, Geschäftsführerin der Swiss School of Public Governance an der ETH Zürich, und Daniel Thürer, emeritierter Professor an der Universität Zürich und ehemaliger
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht und ehemaliges Mitglied des OSZE Schieds- und Vergleichsgerichtshofs, lässt tief blicken, wie sehr der politische
Gestaltungswille dazu verführt, elementare Rechtsprinzipien ausser Kraft zu setzen. Die drei Autoren schlagen in ihrem – nota bene nur in einem aus-ländischen Medium erschienenen – Artikel vor,
russische Vermögen «sanktionierter russischer Oligarchen» zwecks Wiederaufbaus der Ukraine einzuziehen und bemühen als «Inspiration» Art. 72 StGB. Diese Norm sieht die Einziehung von Vermögen
krimineller Organisationen vor. Für Vermögenswerte einer Person, die sich an einer solchen Organisation beteiligt oder sie unterstützt hat, wird nach Art. 72 StGB die Verfügungsmacht der
Organisation bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Daran anlehnend, so die Autoren, «könnten so grundsätzlich alle Vermögenswerte eingezogen werden, ausser die Personen könnten beweisen, dass
sie an dem von Putin provozierten Angriffskrieg nicht beteiligt sind oder diesen unterstüt-zen». Ambühl, Meier und Thürer verschweigen dabei, dass Art. 72 StGB keine allgemeine Beweislastumkehr
vorsieht – eine solche wäre auch nicht rechtens und weder mit dem Schweizerischen Recht noch mit der EMRK vereinbar. Vielmehr findet Art. 72 StGB nur Anwendung auf die Vermögenswerte von
Personen, denen durch richterliches und unabhängiges Urteil die Mitgliedschaft in einer Kriminellen Organisation nachgewiesen worden ist. Ambühl, Meier und Thürer
aber übergehen diese Komplexität, ebenso wie völkerrechtliche Fragen und verlangen von einer näher nicht definierten Gruppe (sanktionierte russische Oligarchen) eine öffentliche politische
Stellungnahme (in casu gegen Russlands Vorgehen), um der Ein-ziehung von Vermögen zu entgehen: «Eine explizite öffentliche Distanzierung vom Kreml wäre entlastend. Ansonsten würde, nach einem
solchen Ansatz, eine Unterstützung angenommen werden». Mit ihrem Artikel katapultieren uns die Autoren zurück in Zeiten, in denen die Gesinnung einer Person darüber entschied, ob sie staatlichen
Repressionen ausgesetzt sein würde, in Zeiten, in denen politische und moralische Vorstellungen das Recht ausser Kraft setzten, in Zeiten, in denen von der staatlichen Doktrin abweichende
Meinungen direkt sanktioniert wurden, in Zeiten, in denen fundamentale Prinzipien des Rechtsstaates wie Meinungsfreiheit, Eigentumsgarantie, Unschuldsvermutung, Kausalität zwischen Handlung und
Sanktion, Legalitätsprinzip, Rückwirkungsverbot und Analogieverbot – um nur einige zu nennen – jederzeit zur Verfolgung politischer Ziele ausgehöhlt werden konnten oder gar nicht erst
existierten. Ein politisches Ziel, sei es noch so nobel, bleibt ein politisches Ziel und muss sich dem Recht beugen. Eine Umkehrung, in der das politische Ziel das Recht beugt, öffnet
(politischer) Willkür Tür und Tor. Und Wer wer so Politik machen will, macht Politik, die der Radikalisierung der Bevölkerung, der Oberflächlichkeit und Simplifizierung von komplexen Problemen,
der Produktion von Denkverboten, der Nibelungentreue gegenüber staat-lichen Moralvorstellungen und der Abhängigkeit von den Medien Vorschub leistet und trägt damit den Rechtstaat zu Grabe.
Dimitrios Karathanassis
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