Erneuter bundesgerichtlicher Schabernack Art. 102

M. A. NiggliWieder bundesgerichtlicher Schabernack: Objektive StrafbarkeitsbedingungenMContraLegem202215152

Erneuter bundesgerichtlicher Schabernack:
Objektive Strafbarkeitsbedingungen

Marcel Alexander Niggli

Unternehmensstrafbarkeit nach Art. 102 StGB & Schuldvorwurf

BGE 142 IV 333

51Im Postfinance-Entscheid (BGE 142 IV 333) hatte das Bundesgericht in E. 4.1 wortwörtlich Folgendes festgestellt:

«Die Begehung der Anlasstat der natürlichen Person bildet bloss den äusseren Grund für die Strafbarkeit.Sie ist objektive Strafbarkeitsbedingung.»

BGE 146 IV 68

Ein paar Jahre danach stellt dasselbe Gericht in E. 2.3.2 fest:

«Eine Antwort auf die Frage, ob es sich bei Art. 102 StGB um einen eigenständigen Übertretungsstraftatbestand oder eine Zurechnungsnorm handelt, kann auch BGE 142 IV 333 nicht entnommen werden.»

Stimmt das so wirklich? Um die bundesgerichtliche Aussage zu überprüfen, muss man natürlich wissen, was eine objektive Strafbarkeitsbedingung ist.

Die objektive Strafbarkeitsbedingung

Eine objektive Strafbarkeitsbedingung muss zwar tatsächlich, d.h. objektiv, erfüllt sein, damit Strafbarkeit eintritt, sie ist aber nicht Teil des Tatunrechts und damit auch nicht Teil der Schuld des Täters, wobei strittig einzig ist, ob die Strafbarkeitsbedingung Teil des objektiven Tatbestandes ist oder ein eigenes darstellt, was aber gleichgültig bleibt für unsere Frage.

Folgt man diesem völlig unbestrittenen Verständnis der objektiven Strafbarkeitsbedingung, ergibt sich notwendig, dass die Anlasstat nicht Teil des Tatunrechts von Art. 102 StGB sein kann. Damit kann die Anlasstat aber auch keinesfalls zugerechnet werden, weil sie dann eben nicht mehr objektive Strafbarkeitsbedingung wäre.

Den Schuldbegriff zeit- und situationsgemäss uminterpretieren.

Entweder die Anlasstat ist objektive Strafbarkeitsbedingung von Art. 102 StGB, dann kann sie nicht zugerechnet werden. Oder die Anlasstat wird dem Unternehmen zugerechnet, dann kann sie keine objektive Strafbarkeitsbedingung sein. Die Aussage in BGE 146 IV 68, wonach BGE 142 IV 333 keine Aussage dazu enthalte, ob Art. 102 StGB eine Zurechnungsnorm darstelle, ist mithin schlicht falsch. Kreuzfalsch.

Natürlich kann das höchste Gericht seine Meinung ändern, aber es sollte eben nicht gleichzeitig vorgeben, dies nicht zu tun.

52Versucht man die beiden Entscheide in Einklang zu bringen, gelangt man in einige Schwierigkeit. Wenn sich der subjektive Tatbestand von Art. 102 StGB nicht auf die Anlasstat beziehen kann, so bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten:

1. Die Anlasstat stellt den Erfolg der sorgfaltspflichtwidrigen Desorganisation des Unternehmens dar, d.h. Art. 102 StGB ist ein Fahrlässigkeitsdelikt.

2. Alternativ kann die Anlasstat dem Unternehmen einfach zugerechnet werden, auch ohne dass sie das Unrecht von Art. 102 StGB oder die Schuld begründen würde. Das wäre nichts anderes als eine Kausalhaftung, eine sog. strict liablity, etwas das bis anhin im Strafrecht eigentlich ausgeschlossen war.

Das Bundesgericht erschreckt uns einigermassen, indem es kommentarlos dem Bundesrat folgt, den es offenbar zuständig hält für die Totalrevision der Strafrechtsdogmatik: Der strafrechtliche Vorwurf dem Unternehmen gegenüber müsse als ein «eigenständiges aliud» qualifiziert und der Schuldbegriff zeit- und situationsgemäss uminterpretiert werden. Alleine schon der Begriff «uminterpretieren» weckt ganz schlechte Erinnerungen, die einen zusammenzucken lassen. Und natürlich kann man es «uminterpretieren» nennen, wenn Strafe verhängt wird, ohne dass Schuld besteht. Ohne diese begriffliche Hilfe, hätten es weniger Eingeweihte sonst möglicherweise «Abkehr vom Schuldprinzip» genannt, oder «Rückkehr in den Zustand vor der Aufklärung».

Nur als abschliessendes Schmankerl sei erwähnt, dass das Bundesgericht am 9. September 2021, also fast zwei Jahre nach dem erwähnten BGE 146 IV 68 vom 12. Dezember 2019, in seinem Entscheid 6B_750_2020, E. 4.1, seine ursprüngliche Position (BGE 142 IV 333) ausdrücklich bestätigte (Anlasstat ist objektive Strafbarkeitsbedingung).

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Marcel Alexander Niggli
Erneuter bundesgerichtlicher Schabernack: Objektive Strafbarkeitsbedingungen, ContraLegem 2022/1, 51-52
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