Eigenständigkeit oder Abhängigkeit

Louis Frederic MuskensEigenständigkeit oder Abhängigkeit von Art. 89 HMG?MContraLegem202215359

Eigenständigkeit oder Abhängigkeit von Art. 89 HMG?

Louis Frédéric Muskens

Wie hoch ist die Busse, die kantonale Verfolgungsbehörden einem Unternehmen auferlegen können?

Einführung und Fragestellung

53Das Verwaltungsstrafrecht enthält eine ganze Reihe dogmatisch höchst spannender Fragen. In diesem Kurzbeitrag befasse ich mich mit der Auslegung von Art. 89 HMG.

Das Heilmittelgesetz (Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte vom 15. Dezember 2000, SR 812.21, «HMG») ist ein verwaltungsrechtliches Gesetz, welches unter anderem den Umgang mit Heilmitteln und Medizinprodukten regelt (vgl. Art. 2 Abs. 1 Bst. a HMG). Es enthält, wie die meisten verwaltungsrechtlichen Gesetze, Strafbestimmungen in einem separaten Kapitel (i.c. der Kapitel 8, Art. 86 ff. HMG).

In diesem Kapitel sind folgende Bestimmungen enthalten: Art. 86 HMG sieht verschiedene Verbrechen und Vergehenstatbestände vor, Art. 87 HMG Übertretungstatbestände, von denen bei Gewerbsmässigkeit einige zu Vergehen werden. Art. 88 HMG erklärt verschiedene Urkundendelikte aus dem Bundesgesetz über die technischen Handelshemmnisse (SR 946.51, THG) für anwendbar. Art. 89 HMG, der uns interessiert, betrifft Wiederhandlungen in Geschäftsbetrieben und Art. 90 HMG sieht eine gespaltene Zuständigkeit für die Verfolgung dieser Straftaten zwischen Bund (BAG und BAZG) und Kantonen (Staatsanwaltschaften) in ihrem jeweiligen Vollzugskompetenzbereich vor.

Soweit Bundesverwaltungsbehörden zuständig sind, findet das Verwaltungsstrafrecht (Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht vom 22. März 1974), SR 313.0, «VStrR») Anwendung (Art. 1 VStrR), was in Art. 90 Abs. 1 HMG wiederholt wird. Soweit die Strafverfolgung durch die kantonalen Staatsanwaltschaften erfolgt, erfolgt sie nach der Strafprozessordnung (SR 312.0, StPO) und das VStrR findet keine Anwendung.

Art. 89 HMG bestimmt folgendes:

Art. 89 Wiederhandlungen in Geschäftsbetrieben

1 Fällt eine Busse von höchstens 20 000 Franken in Betracht und würde die Ermittlung der nach Artikel 6 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR) strafbaren Personen Untersuchungsmassnahmen bedingen, welche im Hinblick auf die verwirkte Strafe unverhältnismässig wären, so kann von einer Verfolgung dieser Personen abgesehen und an deren Stelle der Geschäftsbetrieb (Art. 7 VStrR) zur Bezahlung der Busse verurteilt werden.

2 Die Artikel 6 und 7 VStrR gelten auch bei der Strafverfolgung durch kantonale Behörden.

Zur Erinnerung, Art. 6 und 7 VStrR lauten wie folgt:

III. Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben, durch Beauftragte u. dgl.

1. Regel

Art. 6

1 54Wird eine Widerhandlung beim Besorgen der Angelegenheiten einer juristischen Person, Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft, Einzelfirma oder Personengesamtheit ohne Rechtspersönlichkeit oder sonst in Ausübung geschäftlicher oder dienstlicher Verrichtungen für einen andern begangen, so sind die Strafbestimmungen auf diejenigen natürlichen Personen anwendbar, welche die Tat verübt haben.

2 Der Geschäftsherr, Arbeitgeber, Auftraggeber oder Vertretene, der es vorsätzlich oder fahrlässig in Verletzung einer Rechtspflicht unterlässt, eine Widerhandlung des Untergebenen, Beauftragten oder Vertreters abzuwenden oder in ihren Wirkungen aufzuheben, untersteht den Strafbestimmungen, die für den entsprechend handelnden Täter gelten.

3 Ist der Geschäftsherr, Arbeitgeber, Auftraggeber oder Vertretene eine juristische Person, Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft, Einzelfirma oder Personengesamtheit ohne Rechtspersönlichkeit, so wird Absatz 2 auf die schuldigen Organe, Organmitglieder, geschäftsführenden Gesellschafter, tatsächlich leitenden Personen oder Liquidatoren angewendet.

2. Sonderordnung bei Bussen bis zu 5000 Franken

Art. 7

1 Fällt eine Busse von höchstens 5000 Franken in Betracht und würde die Ermittlung der nach Artikel 6 strafbaren Personen Untersuchungsmassnahmen bedingen, die im Hinblick auf die verwirkte Strafe unverhältnismässig wären, so kann von einer Verfolgung dieser Personen Umgang genommen und an ihrer Stelle die juristische Person, die Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft oder die Einzelfirma zur Bezahlung der Busse verurteilt werden.

2 Für Personengesamtheiten ohne Rechtspersönlichkeit gilt Absatz 1 sinngemäss.

Art. 89 Abs. 1 HMG sieht denselben Mechanismus wie Art. 7 VStrR vor, nur für Bussen bis zu 20 000 Franken statt bis zu 5000 Franken.

Es ist hier nicht der Ort, Art. 7 VStrR näher zu erläutern. Es sei aber trotzdem vermerkt, dass es sich dabei nicht um eine Strafbestimmung im eigentlichen Sinne handelt, sondern um eine prozessuale Regel, welche eine Einstellung des Verfahrens gegen natürliche Personen aus Opportunitätsgründen erlaubt mit gleichzeitiger Auferlegung der (vermeintlich) verwirkten Busse auf das Unternehmen, in dessen Rahmen die Straftat (vermutlich) begangen wurde.

In diesem Beitrag will ich mich auf folgende konkrete Frage beschränken:

Wie hoch ist die Busse, die die kantonalen Staatsanwaltschaften aus prozessökonomischen Gründen dem Unternehmen auferlegen können: 5000 Franken (Art. 7 VStrR) oder 20 000 Franken (Art. 89 Abs. 1 VStrR)?

Klärungsbedarf

Die Rechtsprechung hat diese Frage, soweit ich weiss, noch nicht geklärt. Überraschend ist das nicht, wenn man bedenkt, dass Art. 89 HMG in der hier besprochenen Fassung erst per 1. Januar 2019 eingeführt wurde (AS 2017 2745, 2018 3575).

In der Lehre äussern sich Pieles/Gloor zu dieser Frage wie folgt (Art. 89 N 2b, in: Eichenberger/Jaisli/Richli (Hrsg.), Basler Kommentar Heilmittelgesetz, 2. Aufl., Basel 2021):

«Da der revidierte Abs. 1 nunmehr Art. 7 VStrR als lex specialis derogiert (vgl. Botschaft Revision HMG, 112), ist Abs. 2 insofern unpräzis und potenziell irreführend, als er auf die Anwendbarkeit von Art. 6 und 7 VStrR verweist. 55Im Vorentwurf war Abs. 2 präziser und klarer formuliert: «diese Bestimmung [Abs. 1] sowie Artikel 6 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht gelten auch bei der Strafverfolgung durch kantonale Behörden». Nach der hier vertretenen Auffassung ist der neue Art. 89 Abs. 1 im Sinne des zitierten Vorentwurfs zu verstehen, was zugleich dem bisherigen Sinn von Art. 89 HMG 2000 entspricht, nämlich: nicht nur den Bundesbehörden sollen Art. 6 und 7 VStrR zur Verfügung stehen, sondern auch den kantonalen Behörden im Rahmen ihrer Vollzugskompetenz und zwar mit der gleichen Bussenlimite. Daher gilt auch für die kantonalen Behörden die Bussenlimite von CHF 20 000 gem. Art. 89 Abs. 1 und nicht etwa die tiefere Limite von CHF 5000 gem. Art. 7 VStrR.»

Die Argumentation von Pieles/Gloor basiert vor allem auf den Vorentwurf (Vorentwurf zur Änderung vom Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte, Oktober 2009, «VE-HMG 2009»), welcher wie folgt lautete:

Art. 89 Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben

1 Fällt eine Busse von höchstens 20 000 Franken in Betracht und würde die Ermittlung der nach Artikel 6 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht strafbaren Personen Untersuchungsmassnahmen bedingen, welche im Hinblick auf die verwirkte Strafe unverhältnismässig wären, so kann von einer Verfolgung dieser Personen abgesehen und an deren Stelle der Geschäftsbetrieb (Art. 7 VStrR) zur Bezahlung der Busse verurteilt werden.

2 Diese Bestimmung sowie Artikel 6 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht gelten auch bei der Strafverfolgung durch kantonale Behörden.

Hingegen lautete der Entwurf gleich wie der aktuelle Art. 89 HMG (vgl. BBl 2013 131). Für diese Änderung im Entwurf finden sich keinerlei Erklärungen in der Botschaft des Bundesrates (BBl 2013 1). Das Argument von Pieles/Gloor vermag somit nicht zu überzeugen, da die Änderung auch die gegenteilige Position stützen kann: die Tatsache, dass Art. 89 Abs. 2 HMG anders als Art. 89 Abs. 2 VE-HMG nicht mehr auf Art. 89 Abs. 1 HMG, sondern auf Art. 7 VStrR verweist, könnte genauso gut heissen, dass vor kantonalen Behörden Art. 7 VStrR und nicht Art. 89 Abs. 1 HMG Anwendung finden soll.

Auch vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 1 StGB) erscheint die Meinung, Art. 89 Abs. 2 HMG sei unpräzis und potenziell missverständlich und somit im Sinne des Vorentwurfes zu verstehen fraglich, führt sie doch zu einer härteren Bestrafung zu Lasten der sanktionierten Unternehmen, ohne einen zureichenden Grund für eine solche Auslegung zu liefern. Zur Erinnerung: Art. 1 StGB ist unter anderem bei einer unhaltbaren Auslegung des Strafgesetzes verletzt (vgl. etwa BGE 145 IV 513, E. 2.3.1 der die Rechtsprechung zusammenfasst).

Mangels einer gerichtlichen Klärung und einer überzeugenden Auslegeordnung in der Lehre besteht Klärungsbedarf.

Versuch einer Auslegeordnung

Eigenständigkeit oder Komplementarität von Art. 89 Abs. 1 HMG?

Um genauer zu verstehen, wie die Frage zu beantworten ist, soll die Situation zunächst ohne Rücksicht auf Art. 89 HMG erläutert werden, dann nur unter Berücksichtigung von Art. 89 Abs. 1 HMG, und schliesslich unter Berücksichtigung von Art. 89 Abs. 1 und 2 HMG.

Zunächst ohne Berücksichtigung von Art. 89 HMG: Art. 7 VStrR würde nur für die Strafverfolgung durch Verwaltungsbehörden des Bundes gelten, weshalb die Bundesverwaltungsbehörde dem Unternehmen eine Busse bis zu 5000 Franken auferlegen könnte, die kantonalen Staatsanwaltschaften hingegen nicht (eine allfällige Anwendung von Art. 102 Abs. 1 StGB wird in diesem Beitrag gänzlich ausgeklammert).

56Nun nehmen wir Art. 89 Abs. 1 HMG hinzu, aber noch ohne Art. 89 Abs. 2 HMG: Art. 89 Abs. 1 HMG scheint eine ähnliche Regelung wie Art. 7 VStrR aufzustellen mit zwei Unterschieden: (i) die Höhe der Busse, welche dem Unternehmen auferlegt werden kann (20 000 Franken statt 5000 Franken) und (ii) der Anwendungsbereich (nichts deutet darauf hin, dass Art. 89 Abs. 1 HMG nur in Verfahren vor Bundesverwaltungsbehörden Anwendung finden soll, im Gegensatz zu Art. 7 VStrR aufgrund von Art. 1 VStrR). Basierend alleine auf Art. 89 Abs. 1 HMG würde man somit zum Schluss kommen, dass sowohl die Bundesverwaltungsbehörde als auch die kantonalen Staatsanwaltschaften dem Unternehmen Bussen bis zu 20 000 Franken auferlegen können.

Nehmen wir nun Art. 89 Abs. 2 HMG hinzu: Abs. 2 erklärt Art. 6 und 7 VStrR auch anwendbar auf die von kantonalen (Straf-)Behörden geführten Verfahren. Für Bundesverwaltungsbehörden ändert das nichts. Man bleibt somit bei der vorherigen Lösung: Busse bis zu 20 000 Franken. Für die kantonalen Strafbehörden könnte Art. 89 Abs. 2 HMG zweierlei bedeuten: (i) Es solle Art. 7 VStrR gelten und nicht der schärfere Art. 89 Abs. 1 HMG; oder (ii) es solle Art. 89 Abs. 1 HMG gelten, wofür Art. 89 Abs. 2 HMG die notwendige Grundlage darstellt.

Die Frage hängt ganz vom Wesen des Art. 89 Abs. 1 HMG ab. Stellt diese Norm eine eigenständige, dem Art. 7 VStrR ggf. als lex specialis vorgehende Norm dar oder nur eine ergänzende (ausdehnende) Norm, welche die Anwendbarkeit von Art. 7 VStrR voraussetzt. Im ersten Fall dürften die kantonalen Behörden dem Unternehmen m.E. keine Busse von mehr als 5000 Franken auferlegen, da Art. 89 Abs. 2 HMG explizit auf Art. 7 VStrR und nicht Art. 89 Abs. 1 HMG verweist. Die lex spezialis geht zwar grundsätzlich vor, aber nicht, wenn in einem spezifischen Fall auf die generellere Norm verwiesen wird. Im zweitgenannten Fall dürften hingegen die kantonalen Behörden eine Busse bis zu 20 000 Franken verhängen.

Antwort: Komplementarität von Art. 89 Abs. 1 HMG

Ob Art. 89 Abs. 1 HMG eigenständig oder abhängig ist, lässt sich nicht so einfach bestimmen.

Die Tatsache, dass Art. 89 Abs. 1 HMG auf Art. 6 und 7 VStrR verweist, lässt beide Varianten zu. Es könnte einerseits darauf hindeuten, dass die Anwendbarkeit von Art. 6 und 7 VStrR vorausgesetzt sei, andererseits darauf, dass Art. 89 Abs. 1 HMG eigenständig sei und nur eine begriffliche Anknüpfung stattfinde. Der Verweis auf Art. 6 VStrR würde den Begriff der strafbaren natürlichen Personen definieren (Täter und Geschäftsherr) und Art. 7 den Begriff des Geschäftsbetriebes (juristische Personen, Kollektiv- und Kommanditgesellschaft, Einzelunternehmen, Personengesamtheiten ohne Rechtspersönlichkeit).

Dass sich der VE-HMG noch in Art. 89 Abs. 2 VE-HMG auf Art. 89 Abs. 1 VE-HMG statt auf Art. 7 VStrR bezogen hatte, ergibt ebenfalls unter beiden Hypothesen Sinn. Ist Art. 89 Abs. 1 HMG eine eigenständige Norm, muss ihre Anwendbarkeit auf kantonale Behörden in Art. 89 Abs. 2 HMG nicht statuiert werden, weil sie sich bereits aus Art. 2 HMG ergibt. Ist Art. 89 Abs. 1 HMG hingegen nicht eigenständig, so muss gerade in Art. 89 Abs. 2 HMG nicht auf Abs. 1 verwiesen werden, sondern auf Art. 7 VStrR.

Die Botschaft zum Art. 89 E-HMG führt aus, dass Art. 89 E-HMG «die Anwendung von Art. 7 VStrR [derogiere]» (BBl 2013 1, 112). Die Formulierung ist etwas merkwürdig, besagt sie doch, dass Art. 89 E-MHG nicht etwa Art. 7 VStrR derogiere, sondern dessen Anwendung. Dies könnte darauf hindeuten, dass Art. 89 E-HMG als unselbständig betrachtet wurde, d.h. dass Art. 89 Abs. 1 E-HMG die Anwendbarkeit von Art. 7 VStrR voraussetzt.

Von einem rein logisch-pragmatischen Standpunkt her, würde es wenig Sinn machen, die Höhe einer dem Unternehmen auferlegbaren 57Busse davon abhängig zu machen, welche Behörde für die Verfolgung und Beurteilung einer Wiederhandlungen zuständig ist. Die Logik spricht somit ebenfalls für die Abhängigkeitsthese.

Dogmatisch überzeugender und mit Art. 1 StGB besser vereinbar wäre es, Art. 89 Abs. 1 HMG als eigenständige Norm zu verstehen, dessen Anwendungsbereich nicht von demjenigen von Art. 7 VStrR abhängt.

Aus dem Vorerwähnten ergibt sich, dass Art. 89 Abs. 1 HMG nicht als eigenständige Norm gedacht wurde, sondern nur als Ergänzungsnorm zu Art. 7 VStrR, weshalb sie voraussetzt, dass Art. 7 VStrR anwendbar ist. Aus diesem Grund wiederum wird in Art. 89 Abs. 2 HMG Art. 7 VStrR auf Verfahren vor kantonalen Behörden anwendbar erklärt. Dies bedeutet nicht etwa, dass Art. 7 VStrR in solchen Verfahren Vorrang vor Art. 89 Abs. 1 HMG haben sollte.

Auf die gestellte Frage ist somit zu antworten, dass auch kantonale Behörden dem Unternehmen eine Busse bis zu 20 000 Franken auferlegen können, und zwar in Anwendung von Art. 89 Abs. 1 HMG. An dieser Lösung ist unbefriedigend, dass die Natur von Art. 89 Abs. 1 HMG schwer erkennbar ist und Art. 89 Abs. 2 HMG auf den ersten Blick so verstanden werden könnte, dass die kantonalen Behörden auf Art. 7 VStrR beschränkt sind. Dies ist mit dem Bestimmtheitsgebot von Art. 1 StGB, welcher eine gewisse Berechenbarkeit des Gesetzes verlangt, kaum im Einklang zu bringen.

Dogmatisch überzeugender und mit Art. 1 StGB besser vereinbar wäre es, Art. 89 Abs. 1 HMG als eigenständige Norm zu verstehen, dessen Anwendungsbereich nicht von demjenigen von Art. 7 VStrR abhängt. Damit würde sich in Art. 89 Abs. 2 HMG der Verweis auf Art. 7 VStrR erübrigen und mit dessen Streichung wäre die Unklarheit wäre aufgehoben.

Erweiterung der Analyse auf andere Bestimmungen

Art. 89 Abs. 1 HMG ist keine Ausnahmeerscheinung. Das Schweizer Recht kennt nämlich eine Reihe von Bestimmungen mit einem identischen oder sehr ähnlichen Wortlaut wie Art. 89 Abs. 1 HMG, welche den Mechanismus von Art. 7 VStrR für Bussen bis zu 20 000, 50 000 oder sogar 100 000 Franken vorsehen. Macaluso/Garbarski liefern eine (nicht abschliessende) Übersicht (Alain Macaluso/Andrew Garbarski, in: Frank et al. (Hrsg.), Basler Kommentar Verwaltungsstrafrecht, Basel 2020, Art. 7 N 9).

Art. 133 des Geldspielgesetzes (Bundesgesetz über Geldspiele vom 29. September 2017, SR 935.51, «BGS») ist Art. 89 HMG sehr ähnlich, wird doch in Art. 133 Abs. 1 BGS der Mechanismus von Art. 7 VStrR übernommen und auf Bussen bis zu 100 000 Franken erweitert, und in Art. 133 Abs. 2 BGS werden Art. 6 und 7 VStrR auch auf kantonale Verfahren für anwendbar erklärt. Die Botschaft erwähnt dieses Mal bezüglich des heutigen Art. 133 Abs. 2 BGS (damals Art. 130 Abs. 2 E-BGS): «Diese Präzisierung ist notwendig, da das VStrR grundsätzlich für kantonale Behörden nicht gilt.» (BBl 2015 8387, 8503).

Dieser Hinweis in der Botschaft spricht dafür, Art. 133 Abs. 1 BGS ebenfalls als Ergänzungsnorm 58zu betrachten und der Hinweis auf Art. 7 VStrR in Art. 133 Abs. 2 BGS als notwendige Voraussetzung zur Anwendung von Art. 133 Abs. 1 BGS in kantonalen Verfahren.

Erstaunlicherweise finden sich hingegen für andere Normen deutliche Hinweise darauf, dass sie als eigenständig zu verstehen sind, bzw. so konzipiert wurden.

Das Bundesstrafgericht hat zum Beispiel Art. 49 FINMAG als „lex specialis“ zu Art. 7 VStrR bezeichnet (BStGer vom 26. April 2019, SK.2018.47, E. 5.11.2):

«L’art. 49 LFINMA est une lex specialis par rapport à l’art. 7 DPA. Il fixe le montant maximum de l’amende à CHF 50'000.- pour les infractions aux dispositions pénales de la LFINMA ou de l’une des lois sur les marchés financiers. Pour le surplus, l’art. 49 LFINMA reprend les conditions de l’art. 7 DPA.»

Eine lex speicialis kann Art. 49 FINMAG indes nur sein, wenn sie Art. 7 VStrR nicht nur ergänzt, sondern ersetzt. Darüber hinaus hat das Bundesstrafgericht erwogen, dass Art. 49 FINMAG die Voraussetzungen von Art. 7 VStrR übernehme. Eine Übernahme ist ebenfalls nur möglich, wenn Art. 49 FINMAG selbständige Bedeutung zukommt.

Noch interessanter sind in diesem Zusammenhang die Art. 100 MWSTG und Art. 101 Abs. 1 MWSTG, welche wie folgt lauten:

Art. 100 Widerhandlung im Geschäftsbetrieb

Fällt eine Busse von höchstens 100 000 Franken in Betracht und würde die Ermittlung der nach Artikel 6 VStrR strafbaren Personen Untersuchungsmassnahmen bedingen, die im Hinblick auf die verwirkte Strafe unverhältnismässig wären, so kann die Behörde von einer Verfolgung dieser Personen absehen und an ihrer Stelle den Geschäftsbetrieb (Art. 7 VStrR) zur Bezahlung der Busse verurteilen.

Art. 101 Konkurrenz

1 Die Artikel 7, 9, 11 und 12 Absatz 4 und 13 VStrR sind nicht anwendbar.

[…]

Art. 101 Abs. 1 MWSTG schliesst ausdrücklich die Anwendbarkeit von Art. 7 VStrR aus, nachdem Art. 100 MWSTG denselben Mechanismus wie Art. 7 VStrR für Bussen bis zu 100 000 Franken statuiert. Wenn Art. 100 MWSTG die Anwendbarkeit von Art. 7 VStrR voraussetzen würde, dann hätte der Gesetzgeber ihn in Art. 101 Abs. 1 MWSTG nicht ausgeklammert.

Diese Erweiterung auf andere ähnliche Bestimmungen zeigt, dass die vorstehend vorgeschlagene Auslegung von Art. 89 Abs. 1 HMG als Ergänzungsnorm jedenfalls mit Art. 100 f. MWSTG nicht in Einklang zu bringen ist. Ganz im Gegenteil ist Art. 100 MWSTG als eigenständige Norm konzipiert, was sich in Art. 101 Abs. 1 MWSTG im Ausschluss von Art. 7 VStrR widerspiegelt.

Wohlgemerkt sehen das FINMAG und das MWSTG im Gegensatz zum HMG und z.B. zum BGS keine gespaltene Zuständigkeit vor. Damit liesse sich die Hypothese formulieren, dass der Gesetzgeber die aus Art. 7 VStrR abgeleiteten Normen als eigenständig konzipiert, soweit das Verfahren durch Bundesverwaltungsbehörden geführt wird, jedoch als ergänzend, soweit eine gespaltene Zuständigkeit besteht.

Schluss

Nach der hier vertretenen Meinung findet Art. 89 Abs. 1 HMG auch in kantonalen Verfahren Anwendung, da diese Norm als Ergänzungsnorm konzipiert wurde und Art. 89 Abs. 2 HMG mit dem Hinweis auf Art. 7 VStrR nur die Basis seiner Anwendung statuiert und keine Derogation darstellt. Dasselbe gilt a priori für Art. 133 BGS.

Somit beträgt die Busse, welche die kantonalen (Straf-)Behörden dem Unternehmen in Anwendung 59von Art. 89 HMG auferlegen können, maximal 20 000 Franken.

Diese Auslegung ist jedoch unbefriedigend, weil doch sehr unberechenbar (Art. 1 StGB) und mit anderen, sehr ähnlichen Bestimmungen wie Art. 49 FINMAG oder Art. 100 MWSTG nicht im Einklang. Die nämlich werden offenbar als selbständige Normen betrachtet bzw. wurden als solche konzipiert.

De lege feranda wären somit alle Normen die aus Art. 7 VStrR abgeleitet werden einheitlich als eigenständige Normen zu gestalten. Damit würde einerseits sichergestellt, dass sie sowohl in Verfahren vor Bundesverwaltungsbehörden zur Anwendung kommen können – ohne unglücklichen Hinweis auf Art. 7 VStrR (wie in Art. 89 Abs. 2 HMG oder auch in Art. 133 Abs. 2 BGS) –, andererseits würde damit eine Kohärenz zwischen den verschiedenen Normen erreicht. Dies würde erlauben, den unglücklichen Verweis auf Art. 7 VStrR in Art. 89 Abs. 2 HMG und Art. 133 Abs. 2 BGS zu entfernen – eine eigenständige Norm besitzt nämlich ihren eigenen Anwendungsbereich.

Obwohl das nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages bildet, sei hier vermerkt, dass die Erweiterung von Art. 7 VStrR in verschiedenen Gesetzen (sei es als eigenständige Normen oder als Ergänzungsnormen) als besonders problematisch zu erachten ist, da der Mechanismus eine schuldunabhängige Bestrafung des Unternehmens erlaubt, ohne dass dies durch Gründe der Verfahrensökonomie in Bagatellfällen gerechtfertigt wäre.

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Louis Frédéric Muskens
Eigenständigkeit oder Abhängigkeit von Art. 89 HMG?, ContraLegem 2022/1, 53-59
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